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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung
Autoren: Kerstin Rachfahl
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völlig darin verlieren, eintauchen in eine andere Welt, in der ihr Leben keine Bedeutung mehr hatte.
    Sie zog ernsthaft in Erwägung, dem Orden beizutreten. Aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich in der Gemeinschaft anderer wohlfühlte, die es schaffte, sich einzuordnen und ihre eigenen Gedanken den anderen unterzuordnen. Aber das Kloster hatte ihr eine Idee gegeben, was sie in Zukunft mit ihrem neuen Leben anfangen wollte, denn als Fotografin unter dem Namen Hanna Rosenbaum würde sie nie wieder arbeiten können.
    Sie seufzte tief und wandte sich vom Fenster ab. Sie wusste nicht, weshalb sie noch in diesem Gebäude blieb. Ihre Aussage hatte sie vor zwei Stunden gemacht. Die Anwälte ihres Stiefvaters und ihres Schwagers hatten hartnäckig versucht, durch Fragen die Fakten in einen anderen Zusammenhang zu stellen oder Hannas Worte zu verdrehen. Ein seltsames Gefühl, die Anwälte zu sehen und zu wissen, dass diese sie nicht sehen konnten. Verborgen hinter einer Scheibe sprach sie mit ihnen über ein Mikrofon in einen Computer, der über eine Software ihre Worte in geschriebenen Text verwandelte. Der Richter und der Staatsanwalt saßen auf ihrer Seite des Raums. Alles wurde protokolliert und aufgezeichnet. In ihren Augen stellte der Aufwand eine Farce dar, denn wer anders als sie selbst konnte all das wissen, was sie zu Protokoll gab? Ihr Schwiegervater und auch ihr Schwager wussten, wem sie ihre Verurteilung zu verdanken hatten, da war sie sich sicher. Es gab nur einen Grund, weshalb sie das Versteckspiel mitmachte: die Sicherheit ihrer Mutter und ihrer Zwillingsschwester Marie. Solange sie ihrem Leben fernblieb, hoffte sie, dass die beiden sich nicht in Gefahr befanden.
    Die Tür wurde in dem Moment geöffnet, als Hanna sich auf einen Stuhl am Besprechungstisch setzen wollte. Sofort spannte sich ihr Körper an, ihre Hände griffen an den Rand der Tischplatte, den sie umwerfen und als Schutz benutzen konnte. Seit sie die sicheren Mauern des Klosters verlassen hatte, befand sie sich auf der Hut, und sie wusste, so würde es ihr restliches Leben lang bleiben.
    Sie erkannte ihn sofort. Seine Haare waren an den Schläfen grau geworden, ihr Ansatz nach oben gewandert. Er trug das Haar wesentlich kürzer als damals, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Seine Schultern waren immer noch so breit wie vor sechzehn Jahren. Dafür schob sich ein Bauch über seinen Hosenbund.
    Hanna löste ihre Finger von der Tischplatte, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Herr Hartmann, welch überraschender Besuch.«
    »Oberst Hartmann«, korrigierte er sie. »Hallo Johanna, schön dich zu sehen.«
    Er hatte sie immer bei ihrem richtigen Vornamen genannt, so wie ihr Vater Gabriel, nicht mit der verkürzten Version, Hanna, die alle anderen verwendeten. Aber ihr Name gehörte seit heute ohnehin der Vergangenheit an.
    »Sabine, Sabine Schmidt.«
    »Richtig, Sabine, ich vergaß deine neue Identität.«
    Er kam zu ihr in die Mitte des Raums, setzte sich auf einen der Stühle ihr gegenüber und legte einen Aktenkoffer auf den Tisch. Langsam ließ sie sich nieder. Die Anspannung in ihrem Körper blieb. Schweigend betrachtete sie ihn und fragte sich im Stillen, was er von ihr wollte.
    Er schob ihr eine Mappe herüber. Mit spitzen Fingern klappte sie den Deckel auf. Ein nagelneuer Reisepass und ein Personalausweis fielen ihr als Erstes ins Auge. Sie nahm den Reisepass und öffnete ihn. Ihr eigenes Gesicht sah sie an. Schmale, scharf geschnittene hohe Wangenknochen, dunkle Augen, ihr Mund eine dünne Linie, dunkle kastanienbraune Haare, in einem Pagenkopf geschnitten, der ihr bis zur Kinnspitze reichte. Weiblicher, ein wenig sanfter, so hatte die Typberatung gelautet. Kein zu krasser Wechsel auf blonde Haare, weil das mit viel Aufwand verbunden gewesen wäre. Außerdem hätte jeder aufmerksame Beobachter gesehen, dass sie sich die Haare färbte. Ihr erster Pass mit eigenem Foto darin. Früher hatte sie aus Bequemlichkeit immer ein Bild von Marie verwendet. Hanna warf einen kurzen Blick auf den Personalausweis, bevor sie den Führerschein sah. Sie runzelte die Stirn. »Wird es nicht auffallen, dass der Führerschein neu ist?«
    »Nein, viele lassen sich ihren alten Führerschein auf den neuen europäischen ändern, weil er ein praktischeres Format hat.«
    Hanna ließ ihren Daumen über den darunterliegenden Papierstapel gleiten. »Was ist das?«
    »Schulzeugnisse, Sprachaufenthalt in England, Versicherungen,
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