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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Gestalt eines Mannes, der die Arme vor der Szene ausgestreckt hatte, als beschwöre er Beelzebub höchstpersönlich. Lilian erkannte den breiten Rücken ihres Vaters wieder, neben ihm Sluces gebückte und schlurfende Gestalt. Selbst von ihrem Standpunkt aus war zu sehen, dass die Schuhe ihres Vaters von einer dicken Schicht Schwefelkristalle verkrustet waren, während eine gelbe Färbung, erleuchtet von den lodernden Wolken, die in regelmäßigen Abständen aus den nässenden ockerfarbenen Rissen der Erde hervorbarsten, seine Haare und seinen Bart wie ein Schleier bedeckte.
    Auf einmal erschütterte eine Explosion das Fenster. Erschrocken sprang Lilian zurück. Würde das Ding gleich vollständig in die Luft fliegen? Doch an dem Wahnsinn draußen änderte sich nichts. Da bemerkte Lilian, dass sie inmitten eines wirbelnden Schneesturms stand. War sie im Begriff, den Verstand zu verlieren? Sie ermahnte sich, dass im Hause ihres Vaters alles möglich war. Doch eines war gewiss: Drinnen konnte es unmöglich schneien. Verblüfft streckte sie die Hände aus. Im Nu waren ihre Arme, ihre Schultern, ihr Kopf und ihre Finger mit weichen weißen Flocken bedeckt. Lilian spuckte ein paar aus ihrem Mund, blinzelte sie aus den Augen und musste husten, weil sie ihr in der Kehle stecken blieben. Federn. Sie hob den Blick. Sie fielen in einem grauweißen Schneegestöber aus dem obersten Stockwerk. Es musste Alice sein.
    Lilian stürzte die Treppe hinauf, je zwei Stufen auf einmal nehmend. Die Schauvitrinen und Möbelstücke, die Statuen und Modelle und Maschinen, an denen sie vorübereilte, waren jetzt von weichen, weißen Verwehungen eingehüllt. Eine Daunenwolke regte sich und tanzte in wilden Wirbeln um ihre Knöchel, als sie weiter nach oben eilte. Oben an der Treppe hing eine zerborstene und verbogene Tür an einer einzigen Angel. Lilian blieb stehen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Tränen traten ihr in die Augen, als ihr weitere Federn fast den Atem nahmen. Und dann trat Alice aus den durcheinanderwirbelnden Schwaden hervor. Sie hielt einen zersplitterten Billardqueue in der Hand.
     
    Alice starrte den schlanken Mann an, der Federn in den Haaren und auf seinem Rock hatte, und erbleichte. Hatte Dr. Cattermole einen weiteren Gehilfen dazu eingespannt, ihm bei seinem schrecklichen Vorhaben zu helfen?
    »Ich bin’s«, krächzte Lilian. Ein Mundvoll Federn hielt sie davon ab, dem etwas hinzuzufügen.
    Mr Blake, der nach ihrem Erfolg mit dem Äther in aufgeregtes Plappern verfallen war, sah schweigend zu, wie sich Alice und Lilian vor ihm in die Arme fielen. Ihm war klar, dass Alice ihn vollständig vergessen hatte, so sehr war sie von der Rückkehr ihrer Schwester in Anspruch genommen. Eifersüchtig betrachtete er Lilian, als sie ihrer Schwester über die Haare strich und sie küsste. Wirklich, dachte er gereizt, angeblich war er mit Alice verlobt, und sie hatte ihm nie derart sehnsüchtige Umarmungen, derart zärtliche Küsse gestattet. Die Schwestern hielten sich an den Händen, flüsterten miteinander wie Liebende, sodass sich Mr Blake räuspern musste, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
    Alice drehte sich zu ihm um. »O ja«, sagte sie. »Das ist Mr Blake. Der Fotograf. Mr Blake, das ist Lilian, meine Schwester.« Niedergeschlagen stellte Mr Blake fest, dass sie Lilians Hand nicht losgelassen hatte.
    »Wir sind miteinander verlobt, Ihre Schwester und ich«, sagte Mr Blake.
    Alice lachte. »Wohl kaum.«
    Erneut räusperte sich Mr Blake. »Wenn es deshalb ist, weil ich Sie Dr. Cattermole ausgeliefert habe, kann ich Ihnen versichern, dass das nur geschehen …«
    »Damit hat es nichts zu tun«, unterbrach Alice ihn. »Kommen Sie, Mr Blake. Sie wollen eine Frau, der Sie schmeicheln können, eine Frau, die Gefallen an Ihren Galanterien findet und deren weibliche Reize offensichtlicher sind als die meinen. Wir sind Freunde, gute Freunde, aber das ist alles.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir brauchen einander nicht mehr, Sie und ich. Sie wissen, dass es das Beste ist.«
    Mr Blake öffnete den Mund, um Widerspruch einzulegen, doch da ihm nichts zu sagen einfiel, um ihre Worte zu entkräften, schloss er ihn wieder.
    »Sie müssen von hier fort«, sagte Alice energisch. »So bald wie möglich. Sobald Sie wieder in London sind, sobald die Erinnerungen an diesen Ort verblasst sind, werden Sie zu dem Schluss kommen, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.«
    »Nein, das werde ich nicht«, sagte Mr Blake mit belegter
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