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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Lambert. Schützend zog sie sich ihre Schals fester um die Schultern. »Ein paar Pflanzen sind ins Freie durchgebrochen.«
     
    Lilian ging durch die Zimmer und Korridore des Großen Hauses. Sie trug eine Lampe, die sie aus dem Treibhaus mitgenommen hatte. Von irgendwo draußen ertönte eindringliches Rufen und ein Grollen her, das wie das entfernte Schaufeln von Kohle klang. Die Luft war heiß und stickig und schwer von dem schalen Geruch nach Staub und Altertum. Doch da war außerdem ein neuer Geruch, beißend und widerlich, wie der Gestank nach faulen Eiern. Er brannte in ihren Augen und ließ Übelkeit in ihr hochsteigen, während der verkohlte Geruch nach Rauch und heißem Metall in ihrer Kehle kitzelte, sodass sie das Gefühl hatte, durch die Gänge des Hades zu gehen, anstatt durch einen Korridor in einem Gebäude, das einst ihr Zuhause gewesen war.
    Sie erreichte die Sammlung an Rüstungen. Insgesamt gab es vierunddreißig – eine der größten Sammlungen ausgestellter Rüstungen im ganzen Land, wie ihr Vater gern erklärte. Die Rüstungen standen gewöhnlich in stolzen Reihen zu beiden Seiten des Korridors, der vom Wintergarten zum Fuß der Treppe führte. Seit im Ballsaal verschiedene Artefakte für das Treffen der Gesellschaft aufgestellt worden waren, waren ihre einheitlichen Reihen jedoch in Unordnung gebracht worden, und nun standen sie zu fünft oder sechst in Gruppen zusammen, lehnten betrunken aneinander, als würden sie gleich zu singen anfangen oder einander einen unanständigen Witz erzählen. Ein oder zwei lagen auf dem Boden, als hätten sie gänzlich das Bewusstsein verloren. Lilian schlängelte sich vorwärts und erreichte den Fuß der Treppe neben der ersten der zwölf Standuhren. Eine dunkle Gestalt lag auf dem Boden – noch eine Rüstung, vielleicht umgeworfen, als die Mitglieder der Gesellschaft das Haus en masse verlassen hatten. Lilian hob die Lampe, um nicht über die Rüstung zu fallen. Doch der Lampenschein offenbarte, dass es sich nicht um eine Rüstung handelte. Eine Geschworenenbank aus zwölf Standuhren ragte über der Gestalt von Dr. Cattermole empor.
    Lilian trat vor. Sie hob die Lampe noch höher, um ihn sich gut ansehen zu können. Er lag wie ein aufgeplatzter Wäschesack ausgestreckt am Boden, die Beine und Arme weit gespreizt. Ein Schuh war abgefallen, und Lilian bemerkte einen dicken gelben Nagel, der aus einem Loch an der Spitze seines Strumpfes ragte. Ein paar verräterische Krümel Bakewell Tart klebten an seinem Rockrevers. War er tot? Es sah ganz so aus. Seine Augen waren offen, starrten aber ins Leere. Sein Gesicht war hochrot verfärbt, als sei er wütend darüber, von etwas so Einfachem wie einem vergifteten Kuchen bezwungen worden zu sein. Auf den zwölf silbernen Zifferblättern zeichnete sich nicht mehr Bedauern ab als auf Lilians Gesicht, und ihr Ticken hallte um seine Leiche wie das missbilligende Schnalzen von zwölf Zungen.
    Lilian ließ Dr. Cattermole zurück und erklomm die Treppenstufen. Sie wusste, dass er Alice ins oberste Stockwerk gebracht hatte. Sie war ihm mit ihrem Tablett mit Bakewell Tart und Tee nach oben gefolgt.
    Durch das Fenster auf dem Treppenabsatz im ersten Stock sah Lilian endlich den künstlichen Vulkan, und bei dem Anblick stockte ihr unwillkürlich der Atem, und sie wich einen Schritt zurück. Das breite Grün der Parklandschaft vor dem Haus, das vor zwei Stunden lediglich ein wenig in Unordnung gebracht zu sein schien, hatte sich wie ein ungeheurer Maulwurfshügel aufgeworfen. Der Rasen war vertrocknet und hatte sich braun verfärbt, und der Erdboden selbst schien zu rauchen und voll flackernd tanzender, roter Flammen zu sein. Noch während Lilian hinsah, wölbte und hob sich der Boden erneut. Erdklumpen wurden hierhin und dorthin geschleudert, als rege sich wütend ein Drache unter der Oberfläche. An den Seiten dieses gewaltigen Abszesses aus Erde und Rasen hatten sich große Risse gebildet, die den Blick auf eine eiternde Masse kochenden Eisens und Schwefels freigaben. Eine orangefarbene, eitrige Substanz ergoss sich in Strömen in sämtliche Richtungen. Aus dem Zentrum des Vulkans quollen gelbe Rauchwolken und stoben Funken, Asche und Schlacke in die Luft. Davor standen schwarz gekleidete Gestalten – diejenigen Mitglieder der Gesellschaft zur Verbreitung Nützlichen und Interessanten Wissens, die noch nicht die Flucht ergriffen hatten –, die nun aber wie Dämonen Amok liefen. Inmitten des Durcheinanders stand die reglose
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