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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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»Dies ist ein Anblick, den Sie nie wieder zu Gesicht bekommen werden, und er duldet keinen Aufschub. Der Erdboden hat sich geöffnet, und es gibt Säulen brennenden Schwefels, die Erde speit loderndes Eisen, Rauch quillt hervor – ja, in all meinen Jahren in den Eisengießereien habe ich dergleichen nie zu sehen bekommen. Es ist erstaunlich. Ganz außerordentlich. Es ist der Höllenschlund selbst – im Garten vor meiner eigenen Haustür. Kommen Sie schon, Mann, es gibt keine Zeit zu verlieren.«
    Mr Talbot verschwand durch die Tür wie ein Bühnengeist, eine Rauchschwade hinter sich lassend. Man hörte ihn den Flur entlangstampfen. »Kommen Sie schon, Cattermole!«, schrie er. »Alles andere kann warten.«
    Sehnsüchtig starrte Dr. Cattermole zur Tür, seinem Freund hinterher. Er zögerte einen Augenblick. »Stellen Sie sicher, dass alles ordnungsgemäß hergerichtet ist«, fuhr er Mr Blake an. »Ich bin gleich zurück.«
     
    Sobald sich die Tür geschlossen hatte, eilte Mr Blake an Alices Seite. Er griff nach ihrer Hand. »Alice«, flüsterte er. »Miss Talbot. Sind Sie unversehrt?«
    »Falls ich es bin, habe ich das nicht Ihnen zu verdanken«, murmelte Alice. »Wie viel haben sie Ihnen geboten? Ich hoffe, es ist viel gewesen. Oder haben Sie sich leicht kaufen lassen?«
    »Ich musste tun, was ich getan habe«, sagte der Fotograf. »Wie sonst könnte ich Ihnen helfen, wenn ich nicht so täte, als sei ich mit von der Partie?«
    Alice blinzelte ihn an. »Dann sind Sie nicht mit von der Partie?«
    »Natürlich nicht.«
    »Aber …«
    »Wir dürfen keine Zeit verlieren, wenn Sie entkommen sollen. Der Doktor ist an dem künstlichen Vulkan interessiert, doch er wird nicht lange unten bleiben, wenn es hier oben etwas Interessanteres für ihn zu tun gibt. Er beobachtet Sie nun schon seit geraumer Zeit. Das hat er mir selbst gesagt.«
    »Haben Sie vor, mich zu befreien oder sich mit mir zu unterhalten, bis Dr. Cattermole zurückkehrt?« Erneut sträubte sich Alice gegen ihre Fesseln. »Beeilen Sie sich!«
    Mr Blake machte sich an den Schnallen zu schaffen.
    »Schneiden Sie sie einfach durch!«, rief Alice. »Auf dem Waschtisch befinden sich alle möglichen Messer und Klingen. Kommen Sie schon, Mr Blake. Sie denken nicht klar.«
    Mr Blake nickte und stürzte zu dem Waschtisch. Er kehrte mit Dr. Cattermoles größter chirurgischer Klinge zurück. Kurz darauf war Alice frei.
    Sie sprang auf und rannte zum Waschtisch. Ihr Kopf war schwer, doch sie spürte keinerlei Nachwirkungen von der Dosis Äther, die man ihr verabreicht hatte. Sie sammelte alle Instrumente Dr. Cattermoles ein. »Schnell, Mr Blake!«, rief sie. »Öffnen Sie das Fenster.«
    Mr Blake tat, wie ihm geheißen, und Alice schleuderte das Spekulum, die Klingen und Sonden, die Haken und Nadeln und Spritzen in die Nacht hinaus. Sie konnten den künstlichen Vulkan von der Rückseite des Hauses aus nicht sehen, doch Nachtluft strömte durch das offene Fenster und brachte den unverkennbaren Schwefelgestank mit sich. Funkenregen wirbelte über ihnen in die Dunkelheit des Nachthimmels. Alice warf auch die Lederriemen aus dem Fenster. Die Steigbügel vom Operationstisch folgten. Sie machte sich daran, den Operationstisch selbst durch das Zimmer zu zerren, doch Mr Blake gebot ihr Einhalt. »Er ist zu groß«, sagte er sanft. »Er wird nicht hindurchpassen. Und ist es außerdem nicht an der Zeit zu gehen? Wir wollen bei der Rückkehr des Doktors nicht länger hier sein.«
    Alice nickte. »Aber wir sind doch bestimmt eingesperrt«, sagte sie. »Wie können wir nach draußen gelangen? Cattermole hat Ihnen keinen Schlüssel dagelassen, oder?«
    »Nein.«
    Alice ging zur Tür und drückte die Klinke herab. Sie spähte durch das Schlüsselloch. Kalter Luftzug kitzelte ihren Augapfel. Auf der anderen Seite der Tür steckte kein Schlüssel. »Er hat ihn mitgenommen«, sagte sie. Sie rannte zum Fenster und beugte sich hinaus.
    Doch ihr Gefängnis befand sich so weit oben, dass Alice das Gefühl hatte, in einen bodenlosen Abgrund zu blicken. Sie konnten nicht hinabspringen oder nach unten klettern. Sie sah nach oben, aber der Dachvorsprung befand sich weit über einem geraden Stück Backsteinmauer und einem verzierten Steinsims. Sie rannte wieder zur Tür. Sie hämmerte dagegen. Sie trat dagegen. Sie rüttelte an der Klinke und rief um Hilfe.
    Mr Blake beobachtete ihre ohnmächtigen Anstrengungen mit wachsender Sorge. »Wir sitzen in der Falle«, sagte er düster und ließ sich
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