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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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    Reisende, denen die Gegend um das Große Haus nicht vertraut war, waren gemeinhin überrascht, wenn sie auf seine Grenzmauern stießen. Erst fragten sie sich womöglich, ob diese Mauern, über dreieinhalb Meter hoch und mit einem Mantel aus raschelnden Efeublättern bedeckt, die Eingrenzung einer abgeschiedenen Einrichtung bildeten – eines Krankenhauses vielleicht oder einer Anstalt. Die Zacken des schwarz gestrichenen Eisens zeigten sowohl nach innen als auch nach außen, als habe sich ihr Schöpfer nicht entscheiden können, ob er die Leute abhalten wollte, das Gelände zu verlassen oder zu betreten.
    Das Tor wirkte ähnlich gut befestigt: aus großen eisernen Korkenzieherspiralen geschmiedet und oben mit Zacken bestückt. Doch es war gleichzeitig mit einem freundlichen Wirrwarr aus eisernen Granatäpfeln und Ananasfrüchten verziert, in dessen Mitte vage der Buchstabe »T« zu erkennen war, als bemühe dieser sich, sich aus den Obsttrauben zu befreien. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass die Torflügel zusammengerostet waren und üppige Mooshügel ihre schiefen Angeln wie Pantoffeln umhüllten.
    Mrs Talbot hatte das Tor entworfen und die Skizzen angefertigt, während sie wegen ihrer ersten Niederkunft das Bett hütete. Mr Talbot ließ es in einer seiner Eisengießereien in der Stadt zurechthämmern und anlässlich der Geburt seines Erstgeborenen aufstellen. Doch der Junge verstarb wenige Tage nach Errichtung des Tores an einem Fieber, und im Zuge einer untypischen Zurschaustellung männlicher Gefühle schwor Mr Talbot, dass es erst bei der Geburt seines nächsten Sohnes wieder geöffnet werden sollte. Folglich waren sowohl die Familie als auch Besucher gezwungen, das Anwesen über die Stallungen zu betreten.
    Der Tod seines neugeborenen Sohnes veranlasste Mr Talbot, die Eisenfabriken in der Stadt an Vorarbeiter und Buchhalter zu übergeben und sich, größtenteils von sämtlichen Geschäften befreit, auf dem Land zur Ruhe zu setzen. Außerdem läutete der Todesfall die Geburt der Sammlung ein: der Beginn von Mr Talbots gnadenloser Anhäufung antiker und moderner Artefakte aus allen Winkeln der bekannten Welt. Es sollte, wie er anfangs erklärte, eine Sammlung sein, die den Fortschritt verkörperte und quantifizierte, die den Sieg menschlicher Erfindungsgabe über Natur und Geschichte darstellte. Eine Sammlung, die dazu diente, ihre Betrachter aufzuklären, und die in ihrer Fülle und Mannigfaltigkeit allen anderen Sammlungen Konkurrenz machte (abgesehen natürlich von derjenigen im Britischen Museum, aber schließlich musste man seine Grenzen kennen).
    Schon nach kurzer Zeit beherbergte jedes Zimmer des Hauses eine Anzahl liebevoll ausgewählter Gegenstände, die die hervorragendsten menschlichen Errungenschaften repräsentieren sollten. Wo auch immer man hinsah – welche Tür auch immer man öffnete, in welchen Schatten man auch spähte –, es befanden sich dort Mr Talbots Artefakte und Altertümer. Rüstungen waren in bester Gesellschaft neben versteinerten Meereswesen und Schauvitrinen voll griechischer Tonwaren zu finden. Mittelalterliche Kamine, die man aus ihren Feuerstellen in den Schlössern Europas gerissen und an den Wänden des Großen Hauses wieder aufgebaut hatte, ragten neben ausgestopften Tieren und Bronzestatuen empor. Schaukästen voller Schmetterlingsschwärme, die mit Gas getötet und dann festgesteckt worden waren, säumten die Wände über genialen mechanischen Erfindungen, militärischer Ausrüstung und den modernsten wissenschaftlichen Apparaten. Die Stallungen waren angefüllt mit den letzten Neuerungen aus dem Bereich der Agrarmaschinerie, der Wintergarten war reich an botanischen Exemplaren.
    Gelegentlich äußerte Mrs Talbot Vorbehalte angesichts der wachsenden Menge scheinbar wahlloser Gegenstände, die die Flure, Salons und zahlreichen Schlafgemächer ihres Heims bevölkerten. Doch dann verstarb sie bei der Geburt von Lilian, Alice und Emily – Drillingen, die in der medizinischen Geschichte von ganz Südengland einzigartig waren und folglich die wertvollsten Kuriositäten im ganzen Museum ihres Vaters darstellten.
     
    Da Mr Talbot nun nicht mehr von seiner Gattin Einhalt geboten bekam, wuchs seine Sammlung immer weiter an. Und als die kleine Emily ihrer Mutter und ihrem Bruder ins Grab folgte, fand er Trost im Besitz von noch mehr Dingen. Mitglieder des Haushalts, sowohl Familienangehörige als auch Dienstboten, akzeptierten mit der Zeit, bei der Rückkehr in
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