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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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auch nur die geringsten Aussichten hatte, dem glühenden Eifer dieser Verehrer aus Künstlerkreisen gleichzukommen.
    »Ach ja.« Tante Statham seufzte. »Natürlich waren sie alle mittellos. Und dann habe ich meinen Ehemann kennengelernt. Er war in keiner Weise künstlerisch veranlagt. Ein Geistlicher. Wie Lilians Gatte, aber nicht so dürftig gebaut. Dennoch war er ein Langweiler im Vergleich mit den anderen jungen Männern aus meiner Bekanntschaft, langweilig, wenn auch verlässlich. Aber das ist jetzt schon lange her. Vielleicht wird dieser Fotograf einen netten Ehemann für dich abgeben, mein Liebes?«
    »Alice braucht keinen Ehemann«, fuhr Tante Lambert sie an. »Und Lilian hat auch keinen gebraucht. Das ist die Idee ihres Vaters gewesen. Er hätte sie in Ruhe lassen sollen. Und sie noch dazu nach Indien zu schicken, als sei es nicht schon Strafe genug, die Ehefrau dieses grässlichen Kerls zu sein.«
    »Aber sie hat es geschafft, von hier wegzukommen«, sagte Alice, »was ihr Wunsch gewesen ist.«
    »Er wird ihr niemals vergeben, wisst ihr?«, sagte Mrs Talbot die Ältere. »Edwin kann so stur sein.« Sie seufzte. »Andererseits ist Gehorsam bei einer Tochter mehr als eine Tugend, es ist eine Notwendigkeit. Edwin ist streng gewesen, aber, tja, kann man es ihm verübeln?«
    »Natürlich kann man das«, erwiderte Tante Lambert. »Es war seine eigene Schuld.«
    »Du kannst von Glück sagen, dass er seinen Zorn nicht an dir ausgelassen hat, Alice«, sagte Tante Pendleton. »Er hätte dich einsperren können.«
    »Ach, aber weißt du, es ist nicht wahrscheinlich, dass sich mir eine Gelegenheit wie Lilian bietet«, sagte Alice. »Das hat er mir selbst gesagt. Hauptsächlich weil kein Mann mich haben wollen würde – ich bin zu hässlich.«
    »O nein!«, stießen die Tanten keuchend hervor.
    »O ja«, sagte Alice. Sie lächelte über ihre entsetzten Gesichter.
    »Oh, Alice.« Die Tanten seufzten erneut. Doch sie mieden ihren Blick, denn sie wussten, dass es stimmte. Während Lilians Haut makellos und blass war, war Alices rau und so trüb wie Molke. Lilians Haare waren fein und weich, doch obwohl Alices die gleiche hellbraune Farbe aufwiesen, waren sie stumpf und drahtig. Und während Lilians Figur schlank und wohlproportioniert war, wirkte Alice knochig – ein brustloser, tailleloser und hüftloser Körper, der sich auch durch noch so viele Miederwaren und Couture nicht formen oder kaschieren ließ.
    »Natürlich«, sagte Tante Lambert und lenkte das Gespräch auf ein anderes Thema, um Alices Gefühle zu schonen. »Wenn eure Mutter noch wäre, hätten die Dinge vielleicht ganz anders gelegen. Sie hätte ihre Tochter gewiss nicht mit einem Missionar fortgeschickt. Die arme Lilian. Sie hat es nicht besser gewusst.«
    Alice sagte nichts. Lilian war sich immer völlig darüber im Klaren gewesen, was sie tat, selbst wenn die Dinge letztlich nicht ganz nach Plan liefen.
    »Trotzdem, ich bezweifle, dass es ihr Vergnügen bereitet, einen Ehemann am Hals zu haben«, fügte Tante Statham hinzu. »Ohne ihn wäre sie besser dran. Sie können ja so anspruchsvoll sein. Und dann noch in dieser Hitze. Na ja, vielleicht wird er seine tierischen Gelüste auf dem Basar stillen und Lilian in Frieden lassen.«
    »Lydia, bitte«, murmelte Mrs Talbot die Ältere. Es herrschte Schweigen, und das einzige Geräusch war das Tröpfeln von Wasser irgendwo in den Tiefen des Blätterwerks. Die Tanten wechselten Blicke. Die heiße, feuchte Luft des Wintergartens griff wie warme, klebrige Hände nach Alices Gesicht und Hals. Neben ihr mischte Tante Rushton-Bell beklommen die Spielkarten.
    »Ich habe ihr vor ihrer Abreise den Tropenhelm meines verstorbenen Gatten und sein Gewehr gegeben, wisst ihr«, sagte Tante Lambert einen Augenblick später. »Trotz all seiner Fehler lag Mr Lambert in der Tat sehr viel daran, dass Frauen in der Lage waren, auf sich selbst zu achten. Nicht dass ihm in der Hinsicht etwas anderes übrig geblieben wäre. Ich bin nie die Art Frau gewesen, die einem Mann gestattet hätte, für sie zu sprechen, und ich habe ganz gewiss nie einen gebraucht, der sich um mich gekümmert hätte, als wir in Indien waren. Ich bin sicher, dass Lilian genauso sein wird.«
    Alice blinzelte, da ihr auf einmal Tränen in den Augen brannten. Die Trennung von ihrer Schwester war im Laufe der Zeit nicht erträglicher geworden. Die Tage waren in die Tätigkeiten eingeteilt, die sie immer gemeinsam durchgeführt hatten: das Bewässern des
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