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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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erdrückt zu sein. Hier und dort waren einige Töpfe der größeren Exemplare geborsten, und körniges Erdreich war in Pyramiden zu Boden gerieselt. Pflanzen, die in das Fundament eingemauert waren, hatten so lange dagegen gestoßen, dass die Bodenfliesen Sprünge bekommen und sich gewölbt hatten. Andere waren vollständig durch den Boden geborsten und gewährten obszöne Einblicke auf behaarte Gelenke und Knöchel aus Wurzeln. Einen Augenblick lang war es Mr Blake so vorgekommen, als habe er durch das Blätterwerk einen Blick auf eine Ansammlung leer stehender Möbel erhascht – Tische und Stühle, sogar eine Anrichte –, doch ganz sicher war er sich nicht.
    »Und ist Ihr Vater immer noch dabei, seine botanische Sammlung zu erweitern?«, stieß er keuchend hervor, während er aufpasste, dass ihm die Kamera nicht aus den Händen rutschte.
    »Nein«, fuhr Alice ihn an.
    Mr Blake hob die Augenbrauen, sagte aber nichts.
    »Mein Vater kommt nur selten hierher«, fügte Alice einen Augenblick später hinzu, als sei ihr klar geworden, wie unfreundlich sie klang. »Er hat den Wintergarten zwar errichten lassen – natürlich den größten in ganz England, er ist acht Meter hoch, dreißig Meter lang und fünfzehn Meter breit –, doch die Pflanzen sind von meiner Mutter angebaut worden. Als sie starb, haben meine Schwester und ich uns um die Gewächse gekümmert. Doch mein Vater kommt jetzt nicht mehr an diesen Ort. Selbst als meine Mutter noch am Leben war, ist er nur selten hergekommen; auch wenn er sie gern mit ihrem Interesse an Botanik gewähren ließ. Und meine Schwester.«
    »Und jetzt?«, meinte Mr Blake beharrlich, während er über eine zottige Wurzel stolperte, die so dick wie die Festmacherleine eines Schiffes war. »Wer kümmert sich jetzt um diesen Ort?«
    »Jetzt arbeite ich hier allein.«
    »Und Ihr Vater lässt Sie bei Ihrer Vorliebe für Botanik gewähren, wie ich hoffe?« Mr Blake setzte ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es charmant und aufrichtig wirkte, doch Alice drehte sich nicht zu ihm um.
    Sie gingen durch eine weitere Flügeltür. Sofort wurde die Luft kühl und trocken, das Laubwerk weniger dicht und verworren und das Licht heller. Mr Blake stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihm fiel ein gewaltiger Bottich mit Rädern ins Auge, der auf einer Lichtung neben der Glaswand des Bauwerks stand. Er betrachtete ihn verblüfft. Die großen Messingräder trugen einen Kübel aus dicken Eichenplanken, die wie die Seitenwände eines Schiffes geteert waren. Hier und dort hafteten Moosflecken und Flechten an der Außenseite wie Bärte aus Tang und Muschelkolonien. In dem Kübel befand sich ein Baum.
    »Warum hat der Baum da Räder?«, entfuhr es ihm.
    »Damit man ihn herumfahren kann«, sagte Alice. Ihrem Tonfall war zu entnehmen, dass es eine törichte Frage gewesen war.
    »Warum muss er herumgefahren werden?«
    Alice schnalzte mit der Zunge. »Es ist ein Pfirsichbaum«, sagte sie. »Meine Mutter hat Pfirsiche geliebt. Früher hat sie den Baum zwischen dem Wintergarten und dem Treibhaus hin- und hergeschoben, um ihm die besten Wachstumsbedingungen zu verschaffen. Manchmal steht er sogar ganz im Freien. Seine Früchte sind recht beachtlich. Das da ist selbstverständlich nicht der ursprüngliche Baum, im Laufe der Jahre hat es etliche gegeben. Es ist ein System, das Mutter selbst ersonnen hat. Einzigartig, wie ich glaube. Nun denn, gibt es sonst noch etwas?«
    Mr Blake schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Danke.«
    »Wie ich bereits sagte«, Alice deutete auf eine Bank an der Glaswand, »habe ich hier ein kleines Atelier eingerichtet. Es ist nach Norden gelegen, also ist es immer hell, ohne sonnig zu sein, obgleich ich ab und an das Blätterwerk zurückschneiden muss. Den Schuppen – er ist dort inmitten der Sträucher zu sehen – benutze ich als Dunkelkammer.«
    »Sind Sie Fotografin?«
    »Dachten Sie, ich trage diese Schürze, weil sie meiner Figur schmeichelt?«
    »Verzeihen Sie. Ich habe nicht damit gerechnet … ich meine, Ihr Vater hat nicht gesagt …« Mr Blake errötete.
    »Sie haben nicht damit gerechnet, dass sich hier bereits eine Fotografin befindet ?«, soufflierte Alice.
    »Nein.«
    »Und es bestürzt Sie, eine Frau derart gekleidet zu sehen?«
    »Ja. Tja, ein wenig vielleicht … Will sagen, ich meine nein, nein, selbstverständlich nicht. Ihre Kleidung ist … wie man sie bei jemandem erwarten würde, der sich einer solchen Beschäftigung hingibt.« Mr Blake nahm
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