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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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    Dr. Beatrice Helmer saß allein im Arztzimmer der chirurgischen Notaufnahme am Schreibtisch und ging ein paar Befunde durch, die gerade aus dem Labor gekommen waren. Durch die geöffnete Tür drangen die Geräusche des Stationsalltags zu ihr herein – die eiligen Schritte der Ärzte und Schwestern auf dem Flur, hin und wieder das Stöhnen und Jammern eines Verletzten, die Stimme eines randalierenden Betrunkenen, der eine Schwester anpöbelte.
    Beatrice stützte den Kopf in die Hände und schloss für einen Moment die Augen. Es war Freitagabend. Zu Beginn des Wochenendes war in der Notaufnahme immer viel zu tun, aber an diesem Freitag war es ganz besonders schlimm. Seit sieben Uhr morgens hatten sich Patienten und Rettungssanitäter die Klinke in die Hand gegeben. Beatrice und ihre Kollegen hasteten schon den ganzen Tag im Laufschritt zwischen den Kabinen und Behandlungsräumen hin und her und mussten aufpassen, dabei nicht über die Patienten zu stolpern, die auf den Gängen auf eine Röntgenuntersuchung oder ihre weitere Behandlung warteten. Mittlerweile war es fast Mitternacht. Beatrice war seit siebzehn Stunden ohne Pause im Einsatz. Sie war müde und erschöpft und hatte nur noch den Wunsch, ein heißes Bad zu nehmen und ins Bett zu gehen. Leider war daran noch lange nicht zu denken; acht Stunden Dienst lagen noch vor ihr. Dabei fühlte sie sich, als würde sie nicht einmal die nächste Viertelstunde überstehen können. So ein Tiefpunkt stellte sich bei jedem Nachtdienst ein – mal früher, mal später. Es kam nur darauf an, der Müdigkeit nicht nachzugeben. Beatrice setzte sich aufrecht hin, legte eine Hand auf ihren Bauch und konzentrierte sich so auf die Atmung, wie sie es vor kurzem im Fitness-Studio in dem »Atmen Sie die Spannungen weg«-Kurs gelernt hatte. Angeblich war das eine Technik, die überall, sogar am Arbeitsplatz oder in der U-Bahn funktionierte. Sie zählte bei jedem Atemzug langsam bis zehn und versuchte den Betrunkenen zu ignorieren, der sich lautstark gegen die Blutentnahme wehrte. Offensichtlich hielt er die Ärzte und Schwestern für Mitarbeiter des KGB. Sie öffnete die Augen und horchte in sich hinein. Fühlte sie sich wieder fit und entspannt? Na, vielleicht ein bisschen. Aber vermutlich hatten die Erfinder dieser Entspannungstechnik nicht an die Verhältnisse auf Notaufnahme-Stationen gedacht.
    Beatrice widmete sich wieder den Befunden. Es waren die schlechtesten Blutwerte, die sie jemals zu Gesicht bekommen hatte. Sie gehörten zu einer Neunzehnjährigen, die im Heroinrausch eine Treppe am Hauptbahnhof hinuntergefallen war und sich dabei den Arm gebrochen hatte. Beatrice selbst hatte die Fraktur gerichtet und den Arm anschließend eingegipst. Aber hatte sie der jungen Frau wirklich helfen können? Noch jetzt erschauerte sie, wenn sie an die Augen in diesem schmalen, totenbleichen Gesicht dachte; die trüben Augen einer Greisin, mit Skleren von der Farbe reifer Orangen. Obwohl eine stationäre Behandlung dringend erforderlich gewesen wäre, war es ihr nicht möglich gewesen, die junge Frau zum Bleiben zu überreden. Der Gips war noch nicht einmal richtig durchgetrocknet, als sie wieder ging. Natürlich auf eigene Verantwortung, das hatte sie unterschreiben müssen. Die Klinik wollte schließlich nicht eine mögliche Strafanzeige wegen Fahrlässigkeit riskieren. Beatrice schüttelte frustriert den Kopf. Nach deutschem Recht hatte sie alles getan, was sie für die junge Frau tun konnte. Dennoch blieb das unangenehme Gefühl, in diesem Fall versagt zu haben. Jeder hier wusste, dass auf dem kurzen Weg vom Krankenhaus bis zum Hamburger Hauptbahnhof mindestens zwei Dutzend Dealer auf Kundschaft warteten. Die Leber der jungen Frau konnte noch zwei, vielleicht drei Trips überstehen. Sie würde sich wieder mit Heroin versorgen und wahrscheinlich nicht einmal mehr lange genug leben, um sich den Gips wieder abnehmen zu lassen.
    »Ich glaube, den kannst du brauchen, Bea.«
    Wie aus heiterem Himmel stand plötzlich ein Becher mit dampfendem Kaffee vor Beatrice. Überrascht und dankbar sah sie zu Susanne auf. Die junge Schwester war für ihre Hilfsbereitschaft bekannt, und diesmal hatte sie geradezu hellseherische Fähigkeiten bewiesen. Beatrice brauchte den Kaffee tatsächlich dringend. Und da kleine Gefälligkeiten zwischen Schwestern und Ärzten eine Rarität waren, wusste sie diese Geste besonders zu schätzen. Sie schloss die Augen, atmete den Duft ein und nippte vorsichtig an
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