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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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Neonlicht im Inneren der Schleuse blendete sie, und für einen Augenblick blieb Beatrice stehen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Sie stellte die grünen OP-Clogs zu den anderen Schuhen auf das Regal, zog sich die Strümpfe, die nichts anderes waren als abgeschnittene Schläuche aus Verbandsmull, von den Füßen und warf sie gemeinsam mit OP-Haube und Mundschutz in den Abfalleimer. Als sie sich das weite blaue Hemd über den Kopf zog, fiel etwas aus der Seitentasche und schlug hart auf den gekachelten Boden auf. Beatrice zuckte zusammen und hätte beinahe vor Schreck geschrien. Auf dem Boden lag ein kleiner schimmernder blauer Gegenstand. Sie war sicher, dass er nicht ihr gehörte. Dieses Ding hatte sie noch nie zuvor gesehen. Außerdem steckte sie niemals etwas in die Taschen der OP-Kleidung. Das hatte sie sich abgewöhnt, als sie während ihres praktischen Jahrs eine wertvolle Uhr in der Kitteltasche vergessen hatte. Sie hob den kleinen Gegenstand auf und betrachtete ihn neugierig. Es war ein etwa walnussgroßer Stein, für seine Größe ungewöhnlich schwer, von einem klaren, strahlenden Blau. Eine Seite des Steins sah aus wie poliert, die andere war schroff und zerklüftet, als wäre er zerbrochen. Beatrice suchte den Boden ab. Da sie das fehlende Stück nicht fand, nahm sie an, dass der Stein nicht erst beim Aufprall auf die Fliesen beschädigt worden war. Aber wie mochte er in ihre Tasche gekommen sein? Ob die alte Frau ihr den Stein zugesteckt hatte? Beatrice hatte noch vor Beginn der OP mit Frau Alizadeh gesprochen. Natürlich konnte die alte Frau sie nicht verstehen, aber Beatrice wusste aus Erfahrung, dass allein eine freundliche Stimme, ein Lächeln und ein Händedruck vor Beginn einer Operation eine beruhigende Wirkung auf die Patienten hatte. Der Patient fühlte sich wichtig und ernst genommen, und sie als Chirurgin vergaß nie, wer unter ihrem Messer lag. Frau Alizadeh hatte da auf der Liege besonders verloren ausgesehen, während sich immer wieder neue vermummte Gestalten an ihr zu schaffen machten. Doch als Beatrice mit ihr gesprochen hatte, hatte die alte Frau gelächelt, ihren Arm gestreichelt und Worte auf Arabisch geflüstert. Beatrice hatte sie zwar nicht verstanden, doch es klang freundlich und dankbar.
    Während dieser paar Minuten musste Frau Alizadeh ihr den Gegenstand in die Tasche gesteckt haben. Vielleicht war es eine Art Glücksbringer? Beatrice legte den Stein in die Mitte ihrer flachen Hand und betrachtete ihn. Irgendwie kam ihr das Ganze bekannt vor. Aber woran erinnerte es sie?
    Beatrice blickte erschrocken auf. Das Neonlicht hatte zu flackern begonnen. Sie war eigentlich nicht besonders ängstlich, aber um halb drei Uhr morgens allein in der finsteren Schleuse zu sein gehörte nicht gerade zu den Dingen, die ganz oben auf ihrem Wunschzettel standen. Doch schon nach wenigen Sekunden beruhigte sich das Licht wieder. Sie atmete erleichtert auf und betrachtete erneut den Stein. Er war schön. Und wie er da so genau in der Mitte ihrer Handfläche lag, sah es aus wie… Die Hand der Fatima! schoss es Beatrice durch den Kopf. In diesem Moment flackerte das Licht erneut. Doch diesmal beruhigte es sich nicht, sondern das Flackern wurde immer stärker und schneller, bis es schließlich einer Stroboskopleuchte glich und den ganzen Raum in ein bizarres, verzerrendes Licht tauchte. Gleichzeitig begann der Stein von innen heraus zu strahlen, als hätte eine unsichtbare Hand in seinem Inneren eine Kerze angezündet.
    Erschrocken wollte Beatrice ihn fortwerfen, doch in dem Flackerlicht kamen ihr die eigenen Bewegungen wie die spastischen Zuckungen einer Irren vor, und sie tat es nicht. Stattdessen blieb sie regungslos mitten im Raum stehen, umgeben von den wilden Lichtblitzen, in der Hoffnung, dass es bald vorbei sein würde. Es wäre ihr lieber gewesen, das Licht wäre völlig erloschen. Ihr Herz begann zu pochen, das Blut rauschte in ihren Ohren, und sie spürte, wie ihr die Angst allmählich die Kehle zuschnürte. Ein Epileptiker hätte in diesem Licht keine dreißig Sekunden ausharren können. Aber selbst ein normales Gehirn musste sich irgendwann der Flut dieser starken visuellen Reize beugen und mit einem schweren Krampfanfall antworten. Sie musste hier unbedingt raus. So schnell wie möglich.
    Beatrice sah sich hektisch um. Wo war der Lichtschalter? Wo war die Tür? Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass sie jede Orientierung verloren hatte. Die Schleuse, die sie während der
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