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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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wenigstens keine Schmerzen. Und da sie Gefühl in allen Gliedern hatte und sich bewegen konnte, war es unwahrscheinlich, dass man ihr ein schmerzstillendes Medikament gegeben hatte. Allerdings spürte sie auch nicht die Manschette eines Dauerblutdruckmessgeräts um ihren Oberarm oder die Klebeelektroden von EKG und EEG auf ihrer Haut. Sie hatte, wie es schien, noch nicht einmal eine Kanüle in ihrem Arm, über die ihr eine Infusion gegeben wurde. Wieso waren die Kollegen nur so nachlässig? Oder lag sie erst seit wenigen Sekunden auf der Aufnahmestation, und hörte sie gerade die Anweisungen, die ein Kollege den Schwestern gab? Beatrice versuchte, sich auf die Stimmen zu konzentrieren, um Genaueres zu erfahren, und tatsächlich wurden sie deutlicher. Verwirrt stellte sie fest, dass es sich ausnahmslos um weibliche Stimmen handelte. Das war merkwürdig, denn auf der Aufnahmestation war sie zurzeit die einzige Ärztin. Und noch etwas war seltsam. Sie konnte die Worte zwar deutlich hören, verstand aber ihren Sinn nicht.
    Als Beatrice eine plausible Erklärung dafür einfiel, begann ihr Herz schneller zu schlagen, und ihr Mund wurde staubtrocken. Ob sie etwa an einer Aphasie litt, einer durch einen Schlaganfall verursachten Sprachstörung? Sie kannte sich zwar in der Neurologie nicht besonders gut aus – diesen komplizierten Bereich der Medizin überließ sie lieber den Fachkollegen – aber sie glaubte sich noch aus dem Studium daran zu erinnern, dass eine derartige Reizüberflutung, wie sie sie in der Schleuse erlebt hatte, unter Umständen zu einem Hirninfarkt fuhren konnte. Vielleicht lag sie sogar schon auf einer neurologischen Station, und die weiblichen Stimmen gehörten zu Patientinnen, die mit ihr das Zimmer teilten? So sehr sie die Ungewissheit und ihr Ratespielchen eben noch genossen hatte, so sehr quälte es sie jetzt. Sie musste wissen, was mit ihr los war. Dennoch wagte Beatrice nicht, die Augen zu öffnen, da sie die Gewissheit fürchtete. Stattdessen versuchte sie sich noch mehr auf die Stimmen zu konzentrieren. Und tatsächlich merkte sie nach einigen Minuten, dass es sich offensichtlich um eine andere Sprache handelte. Dem Klang nach zu urteilen sprachen die Frauen Arabisch.
    »Halleluja! Ich habe keinen Insult!«, sagte Beatrice aus vollem Herzen. Dann schlug sie die Augen auf – und war für einen Moment sprachlos.
    Ein schwaches rötliches Licht schien in etwa ein halbes Dutzend Gesichter, die sich über Beatrice beugten und sie neugierig anstarrten. Es waren Frauen, daran hatte Beatrice keinen Zweifel. Aber wie sahen sie aus! Ihre Haare waren struppig und rochen, als wären sie vor langer Zeit das letzte Mal gewaschen worden. Alle hatten ein auffällig schlechtes Gebiss. Bei einigen waren die Zähne nur schief, bei anderen standen sie jedoch so weit vor, dass sie den Mund nicht mehr schließen konnten, und manche hatten gar keine Zähne mehr. Es machte den Eindruck, als hätten diese Frauen noch nie etwas von Zahnärzten und Kieferorthopäden gehört. Dabei würde in solch schweren Fällen doch sicherlich auch das Sozialamt die Behandlungskosten übernehmen. Dann fiel Beatrice eine Frau auf, die offensichtlich unter einer bakteriellen Bindehautentzündung litt. Ein Auge triefte vor Eiter, und das andere war bereits deutlich gerötet. Wenn sie nicht bald ärztliche Hilfe bekam, würde sie ohne Zweifel erblinden, und Beatrice fragte sich, warum man dieser armen Kreatur nicht einfach ein paar antibiotische Augentropfen gab. Außerdem stank es so absurd nach Schweiß, Kot und Urin, dass Beatrice glaubte, sich übergeben zu müssen. Wo um alles in der Welt war sie hingeraten? Diese verwahrlosten Frauen erinnerten sie an Der Name der Rose und ähnliche Filme, die sie im Kino und Fernsehen gesehen hatte. Sie schauten aus, als wären sie geradewegs dem Mittelalter entsprungen. Aber das konnte ja wohl kaum sein. Wo also war sie? Andere Filme fielen ihr ein, Wes Cravens Haus der Vergessenen Kinder zum Beispiel. War sie vielleicht in einer Art geheimen Irrenanstalt gelandet, die einer der Professoren in den Kellerräumen des Krankenhauses zu seiner eigenen Belustigung eingerichtet hatte? Nun, auch das war natürlich Unsinn, die Ausgeburt eines ängstlichen, fantasiebegabten Hirns. Wahrscheinlich war die Lösung des Rätsels ganz einfach – sie lag zu Hause in ihrem Bett. In einigen Minuten würde ihr Wecker klingeln. Sie würde aufwachen, erleichtert sein und über sich selbst lachen. Aber gab es derart
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