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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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dem Kaffee. Er war heiß und stark, und obwohl es sich lediglich um irgendeine billige Marke handelte, in der alten, schmuddligen Kaffeemaschine der Station gebrüht, entfaltete er eine bessere Wirkung als die ausgeklügelte, nach internationalen Erkenntnissen entwickelte Entspannungsübung.
    Susanne ließ sich auf den Drehstuhl fallen, der neben Beatrice stand, und warf einen Blick auf die Befunde. »Sind das die Laborwerte der Kleinen?«
    »Ja. Ihre Leber wird sich bald verabschieden. Und soll ich dir noch eine gute Neuigkeit verraten? Sie ist schwanger.« Beatrice warf den Befund auf den Stapel im Ablagekorb. »Wir wissen ganz genau, dass dieses Mädchen in der nächsten Zeit an Leberversagen sterben wird, doch gegen ihren Willen können wir nichts tun, gar nichts. Wir können nur Wetten darauf abschließen, ob sie im Koma noch einmal zu uns gebracht wird oder gleich in der Gerichtsmedizin landet.«
    »Ja, das ist bitter«, sagte Susanne. »Aber weißt du, manchmal…«
    In diesem Augenblick öffneten sich die Schwingtüren, und mindestens zwei Dutzend Männer und Frauen stürmten die Station. Die Luft war erfüllt von den schrillen Schreien verschleierter Frauen. Beatrice und Susanne sprangen gleichzeitig auf, die Heroinsüchtige war vergessen.
    Messerstecherei? Schusswunden? Schwerverletzte?, ging es Beatrice blitzschnell durch den Kopf. Doch noch während sie überlegte, ob auf der Intensivstation genügend freie Betten zur Verfügung standen, sah sie, dass einer der Männer eine alte Frau auf seinen Armen trug. Im selben Augenblick schämte sie sich für ihre Vorurteile und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Das war der Tribut von fünf Jahren chirurgischer Tätigkeit in einem der sozialen Brennpunkte der Freien und Hansestadt Hamburg; man dachte zunehmend in Schubladen und Klischees.
    Beatrice schnappte sich die einzige noch freie Liege und schob sie den weinenden und schreienden Leuten entgegen.
    »Legen Sie sie hier hin«, sagte sie und griff gleichzeitig nach dem Handgelenk der alten Frau, um den Puls zu tasten. Er war schnell und schwach. »Was ist passiert?«
    Um sie herum schwirrten die Worte. Beatrice hatte den Eindruck, sich in Bagdad, Kairo oder Tunis auf einem Bazar zu befinden, aber auf eine verständliche Antwort wartete sie vergebens. Sie spürte, wie das Adrenalin ihren Puls allmählich ansteigen ließ.
    Hätte die alte Frau gejammert, geschrien, geweint, wäre Beatrice gelassen geblieben. Aber sie lag bleich und erschreckend still auf der Liege und gab trotz des Trubels um sie herum kein Lebenszeichen von sich. Sie reagierte nicht einmal, als Beatrice ihren dünnen, kleinen Körper unter dem weiten orientalischen Gewand schnell abtastete, während Susanne ihren Blutdruck maß.
    »Achtzig zu fünfundvierzig«, sagte sie und drückte Beatrice eine Dauerkanüle in die Hand. »Infusion?«
    Beatrice nickte, und Susanne bahnte sich ihren Weg durch die Angehörigen, die weinten und wehklagten, als wäre die alte Frau bereits gestorben. Dabei war Beatrice nicht sicher, ob das nicht bald der Fall sein würde. Offensichtlich hatte sie einen Schock, warum und wodurch auch immer.
    »Spricht jemand von Ihnen Deutsch?«, fragte Beatrice, während sie an den dünnen Armen nach einer Vene suchte. Am erschrockenen Blick einer etwa vierzigjährigen Frau merkte sie, wie unfreundlich ihre Stimme geklungen haben musste. Noch im selben Moment tat es ihr leid. Aber was sollte sie machen? Seit mittlerweile fünf Minuten lag diese alte Frau vor ihr. Wertvolle Zeit verstrich, und sie wusste immer noch nicht, was mit ihr los war. Sie konnte sich noch nicht einmal auf die Angaben erfahrener Rettungssanitäter verlassen, weil die Angehörigen die alte Frau selbst ins Krankenhaus gebracht hatten. Vom Herzinfarkt über Darmverschluss bis zum Schädel-Hirn-Trauma war alles möglich. Und sie verstand kein Wort.
    »Bitte«, sagte sie und versuchte bewusst ihrer Stimme einen ruhigen und freundlichen Klang zu geben. »Wenn wir der Frau helfen sollen, müssen wir wissen, was passiert ist. Also noch mal: Spricht jemand von Ihnen Deutsch?«
    »Ja, ich«, meldete sich der Mann zu Wort, der die alte Frau hereingetragen hatte.
    »Gut«, meinte Beatrice erleichtert und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Patientin. Sie hatte eine Vene gefunden und schob ihr die Dauerkanüle in den Handrücken. »Was ist passiert?«
    Während sie der alten Frau Blut abnahm, erzählte der Mann in stockenden Worten, dass er seine Mutter nach einer
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