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Die Steine der Fatima

Die Steine der Fatima

Titel: Die Steine der Fatima
Autoren: Franziska Wulf
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wusste sofort, weshalb ihr die Röntgenbilder bekannt vorgekommen waren.
    Andreas Bauer war ein Obdachloser, der schon seit einigen Jahren zu den »Stammgästen« der Notaufnahme gehörte. Besonders in der kalten Jahreszeit kam er oft mit Platzwunden, Verstauchungen und Knochenbrüchen. Als Beatrice einmal ihm gegenüber den Verdacht geäußert hatte, dass er sich einige der Verletzungen absichtlich zufügen würde, hatte er gesagt: »Ach, Frau Doktor, wenn ich jetzt da draußen wäre, würde ich sicherlich erfrieren. Was ist dagegen schon ein bisschen Schmerz? Ich weiß doch, dass Sie Ihre Arbeit gut machen und ich bei Ihnen in den besten Händen bin.«
    Daran dachte Beatrice, als sie Heinrich erklärte, wie man eine alte von einer frischen Fraktur unterscheiden kann. Es war noch nicht besonders kalt draußen, aber für die nächsten Tage war regnerisches Wetter und sogar Sturm angekündigt worden. Keine schöne Zeit, um im Freien zu schlafen.
    Beatrice ging mit Heinrich zu Andreas, um ihn sich anzusehen. Es war zwar unwahrscheinlich, aber sie wollte sicher sein, dass er nicht doch neurologische Ausfälle hatte, die auf eine Schädelblutung hindeuten könnten. Schon beim Öffnen des Vorhangs schlug ihr der Geruch von Alkohol und ungewaschener, wochenlang getragener Kleidung entgegen. Andreas Bauer lag auf der Seite und schnarchte. Wie immer, wenn Beatrice ihn sah, konnte sie sich nur schwer vorstellen, dass er lediglich drei Jahre älter war als sie selbst. Andreas sah aus wie fünfzig.
    »Hallo, Andreas! Hörst du mich?«, rief Beatrice, zog sich Gummihandschuhe an und drehte den Obdachlosen auf den Rücken. »Andreas.«
    Er grunzte ungehalten, als Beatrice seine Lider hob und ihm mit ihrer Stablampe in die Augen leuchtete. Dann untersuchte sie die Wunde.
    »Die Pupillenreaktion ist seitengleich, die Wundränder sind nicht ausgefranst. Sobald ein Behandlungsraum frei wird, kannst du die Wunde säubern und nähen. Aber wir sollten ihn auf alle Fälle über Nacht hier behalten und beobachten. Vielleicht steckt eine Alkoholvergiftung dahinter. Es ist selten, dass er so voll ist. Wahrscheinlich könntest du sogar ohne Lokale nähen.«
    Ohne Lokale – das hieß so viel wie keine Spritze zur örtlichen Betäubung. Natürlich hätte sie das auch sagen können. Aber erstens war es so kürzer, und zweitens gehörte es einfach zum Job, das Jonglieren mit Begriffen, die wie eine Geheimsprache die Eingeweihten von den Außenseitern unterschieden. Das lernte man bereits im ersten Praktikum während des Studiums. Und man lernte es schnell, denn als Student wollte man vom ersten Semester an vor allen Dingen eines – dazugehören.
    Sie verließen die Kabine und zogen die Vorhänge hinter sich zu. Beatrice streifte sich die Handschuhe von den Händen, warf sie in einen der Mülleimer und kehrte ins Arztzimmer zurück. Dr. Stefan Burmann, einer der diensthabenden Anästhesisten, stand vor dem Leuchtkasten. Er trug keinen Kittel, sein kurzes dunkles Haar stand struppig zu allen Seiten ab, und auf seiner Nase war deutlich die rote tiefe Kerbe sichtbar, die eine OP-Maske im Gesicht hinterlässt. Rauchend betrachtete er mit zur Seite geneigtem Kopf die Röntgenaufnahmen eines Hüftgelenks.
    »Ist das deine Patientin, Bea?«, fragte er mit einem kurzen Blick über die Schulter. »Klassischer Schenkelhals.«
    Beatrice stellte sich neben ihn und betrachtete die Röntgenaufnahme. Tatsächlich war die hässliche Bruchkante zwischen Hüftkopf und Oberschenkelknochen unübersehbar.
    »Und nun?«, fragte sie und strich sich ein wenig ratlos das blonde Haar aus dem Gesicht. »Endoprothese oder nicht? Sie ist neunundsechzig und damit genau an der Grenze.«
    Stefan kratzte sich am Kopf und zerzauste sein Haar dadurch noch mehr.
    »Wie ist sie denn zu Wege?«
    »Sie ist ziemlich fit. Leitet den Haushalt ihres Sohnes, bekocht die Familie, geht einkaufen, betreut die Enkel und Urenkel – das hat mir der Sohn erzählt. Deswegen hätte ich bei einem Hüftersatz ein schlechtes Gefühl. Sie ist kein altes Mütterchen. Gut, irgendwie schon, aber… Ich kann das nicht erklären, du müsstest sie dir ansehen.«
    Stefan zuckte mit den Schultern. »Keine kardialen oder pulmonalen Probleme? Diabetes?«
    Beatrice schüttelte den Kopf. »Nichts dergleichen. Außerdem scheint sie sehr diszipliniert zu sein. Eine von der Sorte, die ohne nachzufragen dreimal vor jeder Mahlzeit auf dem rechten Bein um den Tisch hüpft, wenn der Arzt ihr das sagt. Ich glaube, wir
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