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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel
Autoren: Tom Harper
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PROLOG
    Kreta, 20. Mai 1941
    Den alten Sagen zufolge war es hier an diesem Ort, dass Menschen sich zum ersten Mal in die Lüfte erhoben. Ausgestattet mit Flügeln aus Federn und Bienenwachs, hatten sie sich, den Vögeln nacheifernd, vom Dach des hohen Palasts geschwungen und waren dahingeschwebt über das glitzernde Meer. Hoch hinauf strebten sie, immer näher der Sonne entgegen – bis ein Jüngling eines Tages zu hoch flog und in die Tiefe stürzte, weil seine Flügel in der Hitze geschmolzen waren. Als die letzte Feder aufs Wasser hinabtrudelte, war der Jüngling bereits in den Wellen versunken und damit zum Mythos geworden. Auch an diesem Tag war der Himmel wieder voller Männer, doch sie wurden nicht von Flügeln aus Federn getragen, sondern von Seidenschirmen, die an robusten Brustgeschirren befestigt waren, denen die Sonne nichts anhaben konnte. Fallschirmjäger nannten sich diese Männer, die da vom Himmel gestoßen kamen wie raublustige Adler.
    Pemberton sah sie vom Fenster seines Büros aus. Dass es für ihn brenzlig wurde, war ihm klar geworden, als das Bombardement aufhörte. Seit einer Woche war es zu einer schrecklichen Alltäglichkeit geworden: das Dröhnen der Motoren, dann das Geheul der herabstoßenden Stukas und das Beben der Erde unter den Explosionen. Manchmal waren die Bomben so nahe bei der Villa eingeschlagen, dass die Artefakte in den Vitrinen zitterten, wie Teetassen auf den Untertellern klirrten, bis die Angestellten sie im Keller in Sicherheit brachten. Jetzt wurden keine Bomben mehr abgeworfen. Die illustren Flüchtlinge, die ihm das Leben schwergemacht hatten, waren abgereist, und auch die Angestellten waren fort – Pemberton hatte sie am Morgen in ihre Dörfer geschickt, heim zu ihren Familien. Er war als Einziger zurückgeblieben. Und nun war es für ihn höchste Zeit zu verschwinden.
    Er zerrte seinen Tornister vom Hutständer in der Ecke und kippte ihn auf den Schreibtisch aus. Zum Vorschein kam ein lappiges Sandwich, schon eine Woche alt, gefolgt von einer halbleeren Thermoskanne, seinem Fotoapparat, Taschenlampe und Taschenmesser sowie ein paar zerknüllten Schokoladenpapieren. Bis auf die Taschenlampe und das Messer ließ er alles auf dem Tisch zurück, entfernte aber vorsorglich den Film aus dem Apparat. Dann schloss er, zittrig vor Hast, die Schreibtischschublade auf und nahm das Notizbuch heraus. Staub haftete in den Rillen des weichen braunen Leders, und das goldene Monogramm in der Ecke war fast gänzlich abgewetzt. Es war ein Geschenk seiner verstorbenen Frau gewesen, eines ihrer letzten, und er hütete es wie einen Schatz. Doch nicht deswegen war es so wertvoll. Die Invasoren konnten alles in der Villa haben – die Artefakte und Museumsstücke, die Kleidung und das aus England stammende Mobiliar, sogar seine geliebte Bibliothek –, aber nicht dieses Büchlein.
    Mehr blieb ihm nicht zu tun. Er schloss den Tornister und ging zur Tür. Er trat hinaus ins Sonnenlicht, während über ihm ein bunter Schwarm Seidenwolken – weiß, rot, grün und gelb – vom Himmel herab zur Erde schwebte.

    Pemberton hatte gewartet, bis kein Zweifel mehr bestand – bis er die ersten Fallschirme am Nachmittagshimmel erblickte. Jetzt war es zu spät. Das gesamte Tal hallte wider vom Brummen der Junkers Ju-52-Transportflugzeuge, die darüber hinwegflogen, und er konnte bereits das monotone Knattern von Gewehrfeuer hinter der Biegung hören, die nach Norden führte, zum Hafen von Heraklion. Die Deutschen waren offenbar südlich der Stadt gelandet und schnitten ihm so den Weg ab; aus den Junkers am Himmel sprangen immer weitere Verstärkungen ab. In dieser Richtung war für ihn kein Durchkommen. Also wandte er sich nach Süden, hinauf in die Hügel und auf die Berge zu.
    Er kam zügig voran. Zwei Jahre war er inzwischen auf Kreta tätig, seit vor dem Krieg, und seine ausgedehnten Wandertouren ins Inselinnere waren unter seinen Kollegen schon fast legendär. Der Speck über dem Hosenbund, den er infolge zu vieler üppiger Abendessen im Kollegenkreis an der Universität angesetzt hatte, war verschwunden, und die gesunde Bräune in seinem Gesicht machte es mehr als wett, dass ihm die Sonne noch die letzten Spuren von Schwarz aus dem Haar gebleicht hatte. Er war sechsundfünfzig, fühlte sich aber jünger als zehn Jahre zuvor.
    Nach etwa einer Viertelmeile Fußmarsch wandte er sich noch einmal um. Zwischen dem Ring aus Kiefern in der Senke unter ihm waren die ausgegrabenen Mauern des Palastes von
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