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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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ihm in einer abscheulichen Parodie der Natur vor Augen tanzten. In dem warmen, abgeschlossenen Zimmer hatte er den starken Gestank der Leichenhalle verströmt, sodass selbst die Dirne anschließend eine Bemerkung über seinen seltsamen und beklemmenden Geruch hatte fallen lassen. Er war mit dem Gefühl weggegangen, als sei der Tod die ganze Zeit auf seinen Schultern geritten und habe der Frau schadenfroh seinen stinkenden Atem ins Gesicht gekeucht. Es hatte ihm Unbehagen bereitet, auch wenn er sich ins Gedächtnis rief, dass er darauf geachtet hatte, eine Hure auszuwählen, deren Gesicht keines der Krankheitssymptome aufwies, die ihm dank seiner Arbeit bei Dr. Cattermole so vertraut geworden waren.
    Als er anschließend nach Hause zurückgekehrt war, waren seine Blumen verwelkt gewesen, ihre Blütenblätter lagen wie eine Handvoll Konfetti über die Tischplatte verteilt. Mr Blake war alles andere als zufrieden mit seinem Betragen gewesen und hatte Trost in seinen Naturbildern gefunden, von denen ein jedes in einer Sepia-Aufnahme, nicht größer als eine Spielkarte, verewigt war.
    »Ich trage sie seither in meiner Tasche«, sagte er. »Um sie anzusehen, wann immer ich mir die Schönheit und Einfachheit der natürlichen Welt in Erinnerung rufen muss.«
    Alice musterte die Bilder eingehend. »Sie sind sehr gut ausgeführt«, sagte sie. Sie gab ihm die Fotografien zurück. »Zweifellos haben Sie meinen Vater durch diese Bilder für sich gewonnen.«
    »O nein, Miss Talbot! Diese besonderen Bilder sind privater Natur«, erklärte Mr Blake eifrig. »Dr. Cattermole hat Ihrem Vater von mir erzählt. Ich habe Mr Talbot keine meiner Arbeiten gezeigt.«
    »Dr. Cattermole hat für Sie gesprochen? Sind Sie sich sicher, dass das klug war?« Alice lächelte humorlos. »Tja, Sie sind jetzt hier«, fügte sie hinzu. »Was auch immer er gesagt hat, hat das Einverständnis meines Vaters gefunden.«
    Mr Blake versuchte ein Lachen, doch das Geräusch, das sich seiner Kehle entrang, klang mehr nach einem Husten. »In der Tat«, sagte er. Er betrachtete seine Füße. Er konnte ihr auf keinen Fall noch länger ins Gesicht sehen.

4
    Am Abend holte Alice wie gewöhnlich die Tanten im Treibhaus ab. Während sie einander etwas über das raue Wetter, die Zugluft, den Mangel an heißem Wasser an dem Abend und den Umstand zumurmelten, dass Mr Talbot die ausgestopften Tiere in den Korridor vor ihren Schlafzimmern im zweiten Stockwerk umgesiedelt hatte und wie überaus angsteinflößend all diese starrenden kleinen Glasaugen waren, folgten sie ihr zum Abendessen.
    Alice half gerade Tante Rushton-Bell auf ihren Stuhl, als Mr Talbot mit großen Schritten das Zimmer betrat. Mr Blake folgte ihm. Er trug eine Hausjacke, die etliche Nummern zu groß war. Alice hatte ihn seit ihrer Unterhaltung in dem Wintergarten nicht mehr gesehen, nach der Mr Blake auf einmal sehr erpicht darauf gewesen war, mit der Arbeit anzufangen. Er hatte darauf bestanden, dass nur er allein seine Fotografieausrüstung tragen sollte. Im Laufe der nächsten guten Stunde hatte Alice, die bei ihren Tanten im Treibhaus saß, gehört, wie er unablässig durch das raschelnde Grün hin- und zurückging, wobei sein Atem schwerer und seine Schritte immer langsamer wurden, während er seine Schachteln voll Platten, seine Papierballen, die Kisten mit Chemikalien, Tabletts, Schüsseln, Stative, Kopfklemmen und allerlei andere Gegenstände durch den Wintergarten trug.
    Jetzt, dachte Alice, sah er ungepflegt und verdrossen aus, seine lockigen Haare lagen platt gedrückt an seinem Kopf an, und er blickte überrascht drein. Er schien sich in der Hausjacke nicht wohlzufühlen und strich mit Fingern, die wie ihre eigenen schwarze und braune Flecken von den Silbernitraten aufwiesen, über das Revers. Sie musterte ihn eingehend in seinem merkwürdigen Aufzug. Die Jacke gehörte ihrem Vater.
    »Hat jemand Mr Blakes Schrankkoffer gesehen?«, bellte Mr Talbot zur Begrüßung. »Er ist ihm abhanden gekommen.«
    »Abhanden gekommen? O je«, murmelte Mrs Talbot die Ältere.
    »Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen, Mr Blake?«, fragte Tante Rushton-Bell.
    »Er ist auf dem Weg in mein Zimmer verschwunden«, sagte Mr Blake. »Sluce sollte ihn vom Eingangstor holen. Ich habe keine Ahnung, wo der Koffer abgeblieben ist.«
    »Haltet die Augen danach offen«, sagte Mr Talbot. »Besonders du, Alice. Ein großer schwarzer Schrankkoffer. Er muss sich irgendwo im Haus befinden. Und wenn du Sluce siehst, frag
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