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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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Großen Haus wartete, erschauderte er. Der Gestank nach Karbolsäure und Verwesung, der die Leichenhalle erfüllt hatte, schien immer noch an ihm zu haften. Er hämmerte gegen die Tür. »Hallo?«, rief er. »Ist jemand da? Hallo? Hallo? « Die Tür wurde ruckartig geöffnet, und er starrte eine große, knochige Frau an, die etwas trug, das wie eine Druckerschürze aussah.
    »Es besteht kein Anlass zu schreien«, sagte die Frau.
    »Verzeihung«, stammelte er. »Ich dachte, Ihr Bediensteter habe mich vergessen.«
    »Wer, Sluce?« Unvermittelt lächelte sie. »Wahrscheinlich hat er das auch.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Alice Talbot. Ich gehe davon aus, dass Sie Mr Blake der Fotograf sind?«
    Er nahm ihre Hand. Sie hatte lange Finger, die, wie er zu seiner Überraschung feststellte, genauso mit braunen Klecksen und Streifen verschmiert waren wie ihre Schürze. Noch mehr überraschte es ihn, dass ihr Händedruck so kräftig wie der eines Mannes war. Die schwache Frühlingssonne kam kurz hinter den Wolken hervor. Doch anstatt die Gesichtszüge der Frau zu erhellen, beleuchtete der grelle Schein eine dünne Haarschicht, die ihre Wangen und Oberlippe bedeckte wie der Flaum eines Pfirsichs. Nun ja, dachte er, sie war wirklich ziemlich hässlich. Doch dann verschwand der Sonnenschein wieder, und sie war, wie ihm klar wurde, einfach nur unscheinbar.
    »Jemand wird Ihr Gepäck hereinbringen«, sagte sie.
    Mr Blake verbeugte sich leicht.
    Sie betrachtete den hölzernen Kamerakasten. »Ist das alles, was Sie dabeihaben?«
    »Der Rest befindet sich am Tor. Es scheint zugeschweißt zu sein. Vielleicht würde Ihr Bediensteter …«
    »Es ist zugeschweißt. Dieses Haus ist nicht wie die meisten anderen Häuser«, sagte Alice. »Hat Dr. Cattermole Sie nicht davon unterrichtet?«
    »Meine liebe Miss Talbot«, sagte Mr Blake. »Ich habe soeben ein halbes Jahr in einer Leichenhalle verbracht. Ich kann Ihnen versichern, dass das auch kein Ort wie jeder andere ist.«
    Mit einem Schulterzucken führte Alice ihn in die Eingangshalle.
     
    Am Fuß der Treppe standen zwölf Standuhren an der Wand stramm, jede einzelne mürrisch die Zeit vertickend. »Zwölf Uhren?«, fragte Mr Blake düster.
    »Mein Vater zieht sie einmal pro Woche auf«, sagte Alice. »Er achtet wachsam darauf, dass sie genau gehen.« Mr Blake bemerkte, dass sie ihm einen Blick aus dem Augenwinkel zuwarf, und bemerkte, dass sie seine verwirrte Miene belächelte. »Sie schlagen gleichzeitig«, sagte sie. »Genau gleichzeitig.«
    »Es muss sehr laut sein«, stellte er fest, da ihm nichts Aufschlussreicheres einfiel. »Und das ist – was genau?« Er deutete auf eine Unmenge von Zahnrädern und Rädchen, die dicht unter einer gewaltigen Glaskuppel beieinander lagen.
    »Ein Teil von Mr Babbages Differenzmaschine. Nach der Weltausstellung ist sie in ihre Einzelteile zerlegt worden. Mr Babbage meinte, sie sei nicht gut genug ausgestellt worden, und eine einfallslose Menschenmenge habe ihre zukünftige Tragweite ignoriert. Mein Vater hat sich einen Teil für die Sammlung gesichert.«
    »Und was macht sie?«
    »Nichts.«
    »Ach.«
    »Sie funktioniert nicht ohne die übrigen nummerierten Zahnräder und Rädchen. Mr Babbage hat gesagt, wenn er von der Regierung angemessen unterstützt worden wäre und ihm erlaubt worden wäre, das Projekt fertigzustellen, wäre nicht abzusehen gewesen, was vielleicht dabei herausgekommen wäre.«
    Mr Blake nickte. Er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
    »Es ist eine Rechenmaschine«, sagte Alice sanft.
    »Ich werde sie ganz gewiss fotografieren«, sagte Mr Blake. Er folgte Alice durch die voll gestellten Flure.
    Sie stieß eine Flügeltür auf. »Dies«, sagte sie über ihre Schulter, »ist das Treibhaus. Der Wintergarten, in dem ich ein kleines Atelier eingerichtet habe, befindet sich weiter vorn. Ich führe Sie dorthin.«
    Die Tür zum Treibhaus ging geräuschlos zu, sodass sie hermetisch darin eingeschlossen waren. In der Atmosphäre lag eine bleierne Feuchtigkeit, und Mr Blake hatte auf der Stelle das Gefühl, als sei er, vollständig angezogen, in eine warme klare Brühe eingetaucht. Er wischte sich die Stirn ab und blickte sich nervös um. Hoch oben drückten verzweifelte Blätter wie Hände gegen die Glasdecke. Sträucher und Büsche streckten ihre Krallen nach seiner Kleidung aus und schlugen nach seiner Kamera, als er Alice durch das Grün folgte. Alles schien von Moos umhüllt oder von Kletter- oder Schlingpflanzen
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