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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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geliebt hat –, aber ich habe die Hände einfach nicht richtig hinbekommen. Und die Orchidee auch nicht. Lilian war die Blumenmalerin unter uns. Das weißt du. Natürlich hat sie auch nichts anderes gemalt, von daher ist es nicht weiter überraschend, dass sie gut darin war. Sie hat ein paar wunderschöne Arbeiten angefertigt. Wie schade, dass dein Vater sie alle ins Feuer geworfen hat.«
    »Ich habe das eine oder andere versteckt«, sagte Alice.
    »Gut so. Lass es nur deinen Vater nicht wissen, oder er wird sie dir im Handumdrehen abnehmen. Es ist schade, dass du selbst nicht malst, mein Liebes, ansonsten hätte ich dir meine Ausrüstung und auch meine Gemälde vererben können. Andererseits ist nicht jeder künstlerisch begabt. Du hast schon recht. Akzeptiere deine Grenzen und widme dich der Fotografie. Dazu braucht es keine Kunstfertigkeit, nicht wahr?«
    »Ein wenig.«
    »Aber es hat doch nichts mit Zeichnen zu tun«, beharrte Tante Statham. »Es sind alles bloß chemische Reaktionen und so weiter. Das hast du selbst viele Male gesagt.«
    »Das habe ich wohl«, sagte Alice. Im Grunde hörte sie gar nicht wirklich hin. Sie hielt das Gemälde von Lilian hoch und drehte es in dem schwachen Licht hin und her. Tante Lambert hatte recht. Es war nicht sehr gut, obwohl es Tante Statham gelungen war, Lilians halb belustigtes Lächeln einzufangen. Tante Statham hatte Lilian einen wissenden Blick verpasst, wobei das auch daher rühren mochte, dass das Gewicht der Katze die Leinwand ausgebeult hatte. Alice fand das Bild beunruhigend. »Ganz so einfach ist die Sache mit der Fotografie nicht, Tante«, sagte sie geistesabwesend. »Da ist das Licht. Und die Belichtungszeit. Es ist sehr leicht, einen Fehler zu begehen, weißt du?«
    »Aber die Kamera bildet einfach nur ab, was direkt vor einem ist«, beharrte Tante Statham. »Es ist keine Kunst, oder? Kunst erfordert Können und Zeit, Geduld und Scharfblick. Ja, sogar Leidenschaft. Du richtest bloß deinen Kamerakasten auf das Objekt, und deine Chemikalien erledigen die Arbeit. Wo ist da die Kunstfertigkeit? Eine Kamera mag das Bild in allen Einzelheiten einfangen, aber sie kann nicht die Seele des Sujets einfangen.«
    »Die Kamera wird dazu führen, dass die Malerei veraltet, Mrs Statham«, erklärte Tante Lambert energisch, während sie die Whistkarten austeilte. »Insbesondere Porträts. Aber andererseits sind wir letztlich alle veraltet. Bist du mit von der Partie, Liebes? Du kannst mit Mrs Pendleton zusammenspielen. Oder Mrs Rushton-Bell.«
    »Veraltet? Gewiss nicht!«, rief Tante Statham. »Eine Fotografie zeigt uns doch bloß, wie wir sind – müde, mit Zahnlücken, alt und langweilig. In Fotografien steckt keinerlei Extravaganz. Kein Geheimnis. Keine Leidenschaft und kein Gefühl. O nein, wir werden immer Porträts und Malerei brauchen. Wie sonst wollen wir die triste Wirklichkeit unserer Erscheinung vor der Nachwelt verbergen?« Tante Statham entrollte eine Leinwand, die bereits von ihrem Rahmen genommen worden war, und betrachtete liebevoll das Sujet – einen grimmig dreinblickenden alten Mann mit dem hohen Halstuch und extravaganten Backenbart des vergangenen Jahrhunderts. »Ach, Mr Reynolds.« Sie seufzte. »Solche Leidenschaft .« Sie setzte zu einer träumerischen Aufzählung sämtlicher Künstler an, die sie früher gekannt hatte – einschließlich desjenigen, dessen Porträt sie jetzt in Händen hielt. Es hatte viele gegeben, wie es schien, und alle hatten ihre Schönheit und Lebenskraft bestaunt, wobei sie Letztere mit nichts anderem als den intensivsten Ausdrucksmitteln einzufangen können glaubten. Ölfarben waren es gewesen, jedes Mal. »Eine Fotografie wäre gewiss nutzlos gewesen«, fügte sie mit einem Blick auf Tante Lambert hinzu. »Und werden die Fotografen von heute genauso charmant sein wie die Künstler, die sie verdrängen?«
    »Das werden wir bald herausfinden«, sagte Alice. »Mr Blake wird nächste Woche hier sein.«
    Doch Tante Statham war nicht auf die Beantwortung ihrer Frage aus gewesen. Sie war im Wirbel einer vergangenen Ära verloren, an die sich niemand außer ihr erinnerte. Ach, wie die jungen Männer um sie herumgetanzt und -gesprungen waren. Welche Trinksprüche man ihr zu Ehren ausgebracht hatte. Welch Blicke gewechselt worden waren, als verliebte Herren sich auf zu Boden gefallene Taschentücher gestürzt hatten und auf die Knie gegangen waren, um behandschuhte Finger zu küssen … Alice fragte sich unwillkürlich, ob Mr Blake
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