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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen
Autoren: Elaine Di Rollo
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seine Kamera von einer Hand in die andere.
    »Ihre Kamera muss mittlerweile schwer geworden sein«, sagte Alice, die sein Unbehagen bemerkte. »Ich lege meine häufig in Tante Rushton-Bells Rollstuhl und schiebe sie herum, anstatt sie zu tragen. Möchten Sie sie nicht abstellen?«
    »Nein, danke«, sagte Mr Blake. »Ich werde sie weiter halten.« Er zwang sich zu einem Lächeln. Ihm war bewusst, dass sein Gesicht hochrot war, und er erzitterte, als eine Schweißperle seine Schläfe hinab rann.
    »Was genau hat mein Vater Ihnen hier aufgetragen?«, fragte Alice unvermittelt.
    »Er hat mir aufgetragen, die Sammlung zu fotografieren.«
    »Alles?«
    »Seine Lieblingsstücke.«
    »Ist das alles?«
    »Soweit ich weiß, ist das alles, was er von mir will.«
    »Soweit Sie wissen?«
    Mr Blake nickte. Die lange Anreise aus London, die Schwüle des Treibhauses, das Gewicht der Kamera und der Umstand, dass er sich verzweifelt wünschte, jemand möge ihm eine Tasse Tee anbieten, hatten dazu geführt, dass er sich recht schwach fühlte. Das Kreuzverhör ermattete ihn. »Er sagte, er fände vielleicht mehr Arbeit für mich, wenn ich erst einmal hier wäre.«
    »Ich verstehe. Und welche Sujets fotografieren Sie am liebsten, Mr Blake? Leichenteile und krankes Fleisch sind doch gewiss nicht Ihr Hauptinteressensgebiet?«
    Der Fotograf zögerte. Sie sah ihm direkt in die Augen, und er spürte, dass er ihrem Blick nicht standhielt. »O nein«, erwiderte er, »die Arbeit in der Leichenhalle ist nur vorübergehend gewesen. Ich habe Dr. Cattermole dabei geholfen …« Er verstummte. Ihm wurde bewusst, dass er nicht von seiner Arbeit bei Dr. Cattermole sprechen wollte. »Stillleben und Landschaften – verfallene Abteien und Burgruinen – gehören zu meinen Lieblingssujets. Aber ich habe auch schon viele Porträts angefertigt. Man hat meine Arbeit hoch gelobt. Ja, Sie selbst sollten mir Modell sitzen.«
    »Ich bin zu blass«, sagte Alice.
    »Ach, aber selbst die blasseste Blume kann so fotografiert werden, dass sie ihre wahre Schönheit offenbart, wenn das Licht stimmt«, sagte Mr Blake mit einem strahlenden Lächeln. Zu seiner Erleichterung bemerkte er eine leichte Röte auf Alices Wangen. Endlich! Er hatte sich schon gefragt, ob sie überhaupt eine Frau war, angesichts ihres bestimmten Blicks und der geradezu inquisitorischen Unterhaltung. Ermutigt stellte er seine Kamera ab und zog ein Paket Karten aus der Tasche. »Sehen Sie sich diese hier an, Miss Talbot.« Er reichte Alice die Karten. Auf jeder war die schwache Kalotypie einer winzigen Blume zu sehen.
    »Die habe ich im letzten Frühjahr fotografiert, als Dr. Cattermole eines Nachmittags wegberufen wurde. Trotz seiner Anweisung, dass ich mit meinen Aufgaben fortfahren solle, habe ich die Leichenhalle verlassen und einen langen Spaziergang durch den Hyde Park gemacht. Selbst jetzt kann ich mich noch daran erinnern, wie gut es sich angefühlt hat, jenem klammen Ort entkommen zu sein, wenn auch nur für einen Nachmittag. Bevor ich den Park wieder verließ, pflückte ich ein Sträußchen von der Wiese und den umgebenden Blumenbeeten.« Er schenkte Alice ein versonnenes Lächeln. »Wohl ein Andenken an meinen einzigen Nachmittag in Freiheit. Eine Erinnerung, dass die Natur voller Schönheit ist und nicht nur aus all dem Tod und den Krankheiten besteht, die ich täglich auf Dr. Cattermoles Operationstisch zu Gesicht bekommen habe.
    In meiner Wohnung habe ich das winzige Sträußchen fotografiert, bevor es verwelkte – zusammen als Strauß, dann einzelne Abbilder von jeder Blume: Butterblume, Mondviole, Gänseblümchen, ein Zweig Besenginster, ein paar zarte Stängel süß duftender Maiglöckchen … Trotz ihrer zierlichen Größe und schwachen Färbung hat die Kamera jede Einzelheit vollkommen eingefangen.« Veranschaulichend fuhr er mit einem Finger sanft über den Stiel der Mondviole. »Sehen Sie?«, murmelte er. »Der Kniff besteht darin, das Licht genau richtig zu wählen. Und natürlich die Belichtungszeit.«
    Nachdem Mr Blake die Bilder entwickelt hatte, war er zu einer Prostituierten im Viertel gegangen, was er Alice gegenüber natürlich nicht erwähnte – eine Frau unbestimmten Alters, die etwas stillschweigend Resigniertes an sich gehabt hatte. Die mottenzerfressenen Seidenblümchen in ihren strohfarbenen Haaren hatten sich auf und ab bewegt und gezittert, während sie sich ihren Shilling verdiente, und Mr Blake hatte nicht den Blick von ihnen abwenden können, während sie
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