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Eine Ahnung vom Anfang

Titel: Eine Ahnung vom Anfang
Autoren: Norbert Gstrein
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    Der Sommer, von dem ich erzählen will, mit allem, was davor war und danach, liegt jetzt zehn Jahre zurück, und auch wenn ich vieles davon vergessen geglaubt habe, kann ich meiner Erinnerung trauen. Ich bin dann lange nicht mehr draußen gewesen bei dem Haus am Fluss, das ich so sehr mit Daniel und den paar Wochen damals verbinde, als hätte es eine Welt außerhalb gar nicht gegeben. Es ist mein Haus, aber allein es so zu nennen kommt natürlich einer Beschönigung gleich. In Wirklichkeit handelt es sich um die Überreste einer alten Mühle, seit Generationen im Besitz eines anderen Familienzweigs, eine Ruine, mehr war es nicht, die ich in einem Anflug von Sentimentalität erstanden habe, weil sie über Nacht zu haben war und sonst versteigert worden wäre. Auch wenn ich den Kredit heute noch abzahle, war sie mit dem Grundstück drum herum fast geschenkt, wie man so sagt, nur ein paar Quadratmeter, aber weitab von jedem Bauland, weitab von der Stadt und weit genug auch von dem Dorf ein Stück flussaufwärts, das mit seiner Neubausiedlung zwar längst in die Au vorgedrungen ist, aber trotzdem zu einer anderen Sphäre gehört, auf einem anderen Kontinent, wenn man an einem Sommertag auf der Veranda sitzt, seine Gedanken schweifen lässt und sich vorstellt, ein Dampfer würde sich mühsam stampfend die Strömung heraufarbeiten, an der Biegung weiter drunten ins Blickfeld kommen und mit seinen von der Reling winkenden Passagieren wie ein Geisterschiff an einem vorbeiziehen.
    Ich dachte, dass ich das Gebäude nie nützen würde oder gar so weit instand setzen, dass es wenn schon nicht bewohnbar wäre, so immerhin ein festes Dach über dem Kopf bieten würde, und es widerstrebte mir, etwas zu kaufen, nur um es zu besitzen, aber die Vorstellung, es könnte in fremde Hände gelangen, brachte mich dann doch dazu, die Mühle zu erwerben. Ich wollte sie haben, und als Begründung fiel mir gerade noch ein »um die Dinge zusammenzuhalten«, aber wenn ich nachdachte, was sich hinter »die Dinge« verbarg, wurde es schon schwieriger, und klar schien einzig und allein, dass es alles mögliche sein konnte, nur eben nicht Dinge. Zu dem Ort hatte ich kaum Erinnerungen, außer der einen, dass ich als Kind einmal dabeigewesen war, als das Heu eingebracht wurde, und ich dann mit meinen Cousins und Cousinen auf dem von einer Kuh gezogenen Heuwagen im Fuder saß und stolz über die weit unter mir träge vorbeiruckelnden Felder schaute. Darüber hinaus war es wenig genug, was ich mit ihm verband, und doch ist das die Gegend, aus der meine Leute mütterlicherseits stammen. Vom Haus ist es nur ein längerer Spaziergang bis zu der Stelle, an der mein Großvater noch vor meiner Geburt, von einem Motorrad erfasst, zu Tode kam, weiter unten am Fluss, durch die Schlucht bei Niedrigwasser erreichbar, befindet sich die Höhle, in der Robert, mein Bruder, seinem Leben ein Ende gesetzt hat, und obwohl niemand genau weiß, wo es gewesen sein mag, muss irgendwo hier mein Onkel ins Wasser gegangen sein. Wenn ich den kleinen, bewaldeten Abhang hinter dem Haus hochstieg, konnte ich die Wiesen sehen, die auch meiner Familie gehört hatten und in denen im vorletzten Kriegsjahr ein in Brand geschossener amerikanischer Bomber notgelandet war, und ich hatte augenblicklich wieder die Geschichte im Kopf, wie meine Mutter sie mir erzählt hat. Sie war damals, acht Jahre alt, mit den anderen Schulkindern bis zu der Stelle gelaufen, an der das Flugzeug schließlich niedergegangen war. Die ganze Klasse hatte es brennend um den freistehenden Berg im Osten kreisen sehen, der ein natürlicher Orientierungspunkt ist, und war von der Lehrerin nicht mehr zu halten gewesen und hinausgestürmt, während es mit dröhnenden Motoren knapp über dem Boden hereinschwebte. Ich habe ein klares Bild von meiner Mutter als Mädchen, obwohl es kaum Fotos von ihr aus der Zeit gibt und ich erst seit ihrem Tod die Obsession entwickelt habe, sie auch auf nur im entferntesten in Frage kommenden Bilddokumenten aus den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu suchen. Das Merkwürdige daran ist, dass ich mich dann immer als Gleichaltrigen sehe, immer als kleinen Jungen, der im Sommer 1944 an ihrer Seite war, vielleicht sogar unwillkürlich ihre Hand ergriffen und sie mit sich gezogen hat, Hals über Kopf hinter den anderen her.
    Seit der letzte Abschnitt der Autobahn fertiggestellt ist, fahre ich manchmal hinaus zu der Raststätte, die ziemlich genau dort errichtet
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