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Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)

Titel: Hämoglobin (Jacks Gutenachtgeschichten) (German Edition)
Autoren: Torsten Sträter
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mit einer Fußnote, die besagte, dass wir alle sterben – und je eher einem das klar würde, desto besser.
    Die wenigen, die noch den Stolz und die Kraft besaßen, die Bestellungen der Stationsschwester, die in ihrem Namen aufg e geben worden war, zu unterzeichnen, machten meistens einen nichts sagenden Kringel; zittrige Haken waren auch beliebt.
    Ich bin kein Zyniker, aber meine Geduld mit den Herrschaften auf Station Blau wurde selten belohnt, und ich holte mir me i stens eine weitere Unterschrift bei einer Schwester.
    Da lobte ich mir den Oberst auf Station Grün.
     
    Dem Rezeptionisten, einem graugesichtigen, kantigen Mann in knotiger Strickjacke, sah man an, dass er es nicht in ein Pfleg e heim schaffen würde. Der Spaten zu seinem Grab war er selbst . A uch er roch nach Verwesung . U nd einem grässlichen Aftershave, das diesen Geruch nur schwach überlagerte.
    Er nahm extra seine filterlose Zigarette aus dem Mundwinkel, um durch die Zähne zu pfeifen.
    »Viel heute«, sagte er.
    »Kann man nicht anders sagen.«
     
    Ich lächelte der alten Dame zu, die man sorgfältig frisiert, aber zahnlos durchs Parterre schlurfen ließ, und stellte weitere Pak e te auf Grün zu, ergot h erapeutisches Material vor allem.
    Hier waren die Schwestern jung und nett. Ich hatte es das »Stockwerk der Puddingesser« getauft, weil immer irgend ein rüstiger Rentner an einem der Tische im Gang saß und bei einem Buch oder Kreuzworträtsel sein Dessert löffelte oder strickte.
    Kam man auf Station Rot, war das Pflegepersonal noch immer freundlich, aber stets abgekämpft, denn dies war die anstre n gendste Etage. Der Tod dieser Patienten war kaum mehr als ein Glühen am Horizont – d as aber längst nicht so fern war, wie es einem vorkam; Diese Klientel war noch beweglich, und das bedeutete Stress.
    Sehr weniges, aber gutes Personal arbeitete hier.
     
    Ich belieferte Grün und Rot, und als ich mich meinem Kram für Blau zum Fahrstuhl begab, rann mir der Schweiß in den Kragen. Alte Leute frieren schnell; die Heizungen gluckerten in beinahe jedem Raum. Meine Finger hinterließen feuchte A b drücke auf den Lieferscheinen, die sämtlich von Schwestern unterzeichnet worden waren, und mein Zeigefinger schmierte einen feuchten Film auf die blau leuchtende Taste für das Stockwerk der Hinfälligen. Dann ging es aufwärts.
    Die Stahltür glitt zurück, und augenblicklich wehte mir der Geruch nach Urin und Verfall entgegen.
    Die Lobby war leer. Das Aquarium blubberte, aber niemand hockte davor, um Schmerlen oder Goldfischen bei ihren B e schäftigungen zuzusehen.
    Die Wände waren schlicht grau. Es lohnte wohl nicht, optim i stische Farben an die Wände zu bringen, da nur ein Bruchteil der Patienten auf Station Blau in der Lage war, in der Lobby zu sitzen, um den Klängen von WDR 4 zu lauschen oder Stric k nadeln klappern zu lassen.
    Die Stille war bedrückend – selbst die Pumpe des Aquariums vermochte dieser Station kein Leben einzuhauchen; es war nur die Luftversorgung eines Gefängnisses, dessen Insassen Na h rung und Raum erhielten, ohne danach gefragt worden zu sein; keine angenehme Parallele zu Station Blau.
    Ich klopfte gegen die Scheibe, aber die Fische nahmen keine Notiz von mir.
    »Kopf hoch, Jungs«, versuchte ich, mich selbst aufzumuntern.
    Dann sortierte ich meine Scheine.
    »Guten Morgen«, kam es straff durch das Knistern des Papiers, und als ich aufblickte, sah ich ins Gesicht der Stationsschw e ster.
    »Morgen«, erwiderte ich.
    Sie musterte mich mit professionellem Blick. Die Tatsache, dass ich gesund und kein Patient war, vermochte nicht diese gewisse Unbarmherzigkeit aus ihren grauen Augen zu vertre i ben.
    »Wenn Sie alles auf die Zimmer verbracht haben« – sie sagte wirklich verbracht , nicht zugestellt oder geliefert – »kommen Sie zu mir. Ich unterschreibe Ihnen das dann. Seien Sie leise, wenn Sie in die Zimmer gehen.«
    »Jawoll«, entgegnete ich zackig und begann, den Schläfern auf Blau ihren Kram zu bringen.
    Das erste Zimmer brachte mich geistig zurück in den Sterb e raum meiner Großmutter; der Geruch war ganz eigen: Eine Ansammlung sich überdeckender Noten, die jede für sich ve r mutlich Brechreiz erzeugten, als Komposition jedoch eine u n heimlich-würzige Blume aus Puder und etwas völlig Fremden entfaltete n .
    »Guten Morgen«, sagte ich in ein eingefallenes Gesicht auf einem Schaumgummikissen.
    Es war unmöglich zu bestimmen, ob ich einen Mann oder eine Frau vor mir hatte.
    Der Fernseher
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