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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Campingplatzes war nicht besetzt. Ich ging zielstrebig an dem Klinkerbau vorbei, in dem sich das Waschhaus und die Toiletten befanden. Dahinter teilten sich die Wege. Der rechte führte durch eine schnurgerade, blumengeschmückte und umzäunte Wohnwagenreihe. Der linke auf eine Wiese. Die war mit kleinen Nummernschildern auf Pflöcken in Parzellen unterteilt. Ich wählte den rechten, denn Lilly gehörte zu den Dauercampern. Das Wohnwagenidyll ähnelte in diesem Viertel des Campingplatzes der benachbarten Laubenkolonie. Sie wirkte nur belebter. Über allem schwebte eine Wolke aus Grillkohle und dem Duft von gebratenen Würstchen. Verschiedene Radiosender quäkten. Kinder lachten. Ich schaute nicht zur Seite, obwohl ich neugierige Blicke spürte. Ich trug meine Reitklamotten und war eindeutig als Nicht-Camperin zu erkennen.
    Ich erkannte ihn sofort. Der Wagen hatte sogar einen kleinen Schornstein. Ihr Grundstück war nur von ein paar wahllos platzierten Steinen begrenzt. In dem kleinen Vorgarten leuchtete die bunte Vielfalt einer blühenden Wiese. Sie sah schön aus. Als ich näher kam, konnte ich auf dem dunkelrot gestrichenen Wagen ein schwarzes Muster erkennen. Eigenartige Flechten, Spiralen und Labyrinthe, die mich für einen Augenblick in ihren Bann zogen und an die Kaftane von damals erinnerten. Ich löste mich aus den alten Bildern und erkannte, dass es die Muster keltischer Knoten sein mussten. Ich kräuselte spöttisch die Lippen. Das passte zu Lilly.
    Über der schmalen Eingangstür hatte sie eine Schiffsglocke angebracht. Ihr Anblick gab mir einen Stich. Wahrscheinlich hatte sie die von Mama. Ich klopfte energisch an die Tür. Nichts. Noch einmal. Wieder nichts. Ich griff zögernd nach dem Schlegel und läutete die Glocke.
    »Lilly ist nicht zu Hause!« Die Frauenstimme kam wie aus dem Nichts und jagte meinen Pulsschlag in die Höhe. Ich drehte mich um und entdeckte hinter der Nachbarhecke einen Frauenkopf. Ich nickte ihr flüchtig dankend zu und blieb unschlüssig stehen. Neben der Tür war ein Holzkästchen angebracht. Ich hob den Deckel und entdeckte Kärtchen und Schreibstift. Ungeduldig fischte ich eine Karte heraus und schrieb: »Ruf mich bitte an! Dringend! Michelle.«
    Bevor ich das Kärtchen unter die Türritze schob, las ich den Text auf der anderen Seite: Sind die Irren die falsch Verstandenen?
    Klar, Lilly! Die sind auf jeden Fall die falsch Verstandenen. Du musst das ja wissen. Dann schob ich die Karte durch und ging zurück zum Wagen.
    Ich fühlte mich plötzlich völlig erschöpft. Das lag sicher auch an der Wetterlage. Es würde ein Gewitter geben. Wahrscheinlich war es das Klügste, nicht mehr in den Stall zu gehen. Saphira würde mit Sicherheit schlecht gelaunt sein, und der Ausritt mit ihr kein Genuss. Ich würde Kathrin simsen, dass sie Saphira longieren soll. Auf Kathrin war Verlass.
    Ich ließ die Klimaanlage laufen und trank gierig eine Flasche Wasser leer. Wahrscheinlich machte ich mir zu viele Gedanken, versuchte ich mich zu beschwichtigen. Vielleicht, aber Mama hatte mich noch nie zu einem Besuch gezwungen. Ihr Verhalten war fremd, und ich kannte sie nicht so nervös, ja sogar ängstlich. Das passte nicht zu ihr. Keine Frage, das konnte ich nicht auf die lange Bank schieben. Ich musste etwas unternehmen. Erst den Check, und dann würde ich mich nach einer seniorengerechten Umgebung für sie umschauen. Die Laubenkolonie mit Plumpsklo und Wasserpumpe war es jedenfalls nicht. Und Mama hatte genug Geld auf der Kante, um bequemer zu wohnen.
    Ich startete den Wagen und fuhr los. 18.10 Uhr. Den Fußpflegetermin bei Hannah würde ich schaffen. Dabei könnte ich in Ruhe die liegen gebliebenen Briefe diktieren. Hannah war das gewohnt und zwang mir nie ein Gespräch auf, was ich sehr zu schätzen wusste.
    Die Ampel schaltete auf Rot. Weit und breit kein Auto in Sicht. Solche unnötigen Pausen ärgerten mich. Sie waren regelrechte Zeiträuber. Ich lehnte mich zurück. Mein Nacken begann sich schmerzhaft zu verspannen. Auch dagegen half meistens die Fußpflege. Hannah war eine Künstlerin. Sie würde noch eine spezielle Massage dranhängen. Rot – gelb. Ich legte den Gang ein. Da wurde die Beifahrertür aufgerissen, und bevor ich richtig begriff, was los war, saß ein Mann neben mir und hielt die Mündung einer Pistole auf mich gerichtet.
    »Weiterfahren! Und keine Mätzchen!«
     
    Interview: männlich, 20 Jahre
     
    Zu dem Wort ›alt‹ fällt mir gebrechlich, schwach, zufrieden,
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