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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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ist okay.«
    Ich war aufgestanden.
    »Michelle, wir wollen nicht streiten. Dass alles okay in deinem Leben ist, das …«, sie zögerte, »das versuchst du mir weiszumachen, seit Lena …«
    »Stopp! Nicht das auch noch!« Ich konnte mich nicht mehr beherrschen und brüllte sie an. »Hör auf, mir zu erzählen, was ich fühle! Wie willst du das wissen? Du siehst einfach nicht ein, dass ich anders bin als du. Wenn etwas zu Ende ist, dann ist es für mich zu Ende. Du bist es, die hier etwas schönredet. Du trauerst immer noch und tust so, als wäre die Welt für dich in Ordnung. Du hast deine Lieblingstochter verloren und versuchst mir vorzumachen, dass es nicht so ist. Diese Heuchelei ist das Schlimmste, und sie ist feige.«
    Mama sah plötzlich sehr müde aus.
    »Das Treffen heute ist zu wichtig, um zu streiten. Wir werden uns eine Zeit lang nicht sehen können. Ich kann dir nicht erzählen, weshalb. Du würdest es mir sowieso nicht glauben. Bitte setz dich noch einen Augenblick.«
    Ich blieb stehen.
    »Das ist auch wieder so eine Nettigkeit. Wie willst du einschätzen können, was ich verstehe und was nicht?«
    »Weil du immer alles logisch erklärt haben musst.«
    »Das hört sich schwer nach Lilly an. Hat sie dir einen Floh ins Ohr gesetzt?«
    Zu meiner Verwunderung errötete Mama.
    »Ja, Lilly hat etwas damit zu tun, aber anders, als du denkst.«
    Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie war eindeutig nervös. Unruhe war mir bei ihr sonst nie aufgefallen.
    »Ich habe Lilly um einen Gefallen gebeten. Sie hat für mich einen – einen Zauber ausgesprochen.«
    »Einen Zauber«, wiederholte ich dumpf. Ich war von meiner Mutter einiges gewohnt, aber das schoss den Vogel ab.
    »Ach Michelle, ich habe es geahnt. Aber jetzt musst du mir richtig zuhören. Bitte.«
    Ich zwang mich, sie weiterhin anzusehen.
    »Michelle, dieser Zauber kann nicht dich verändern, nicht dein Inneres. Sperr dich nicht zu sehr gegen die Veränderung und vor allem, hab‹ keine Angst! Nimm es als eine Chance für dich an! Schau dich um! Hörst du? Schau dich gut um und lass dir Zeit dabei. Und hab‹ vor allem keine Angst, mein Mädchen. Vergiss das nicht.«
    In meinem Kopf rauschte es. Ich musste hier erst einmal raus. Ich hatte das unwirkliche Gefühl, mitten in einem Patientengespräch gelandet zu sein. Aber hier saß keine Patientin, sondern meine Mutter. Ich griff nach meiner Tasche.
    »Michelle, du läufst schon wieder weg.«
    »Nein, ich komme wieder. Schon morgen.«
    Mama antwortete nicht. Sie zog mich gegen meinen Willen fest in ihre Arme. Sie war noch immer stärker als ich.
     
     
    Interview: weiblich, 30 Jahre
     
    Zum Wort ›alt‹ fällt mir Demenz, Rente, Gebrechlichkeit, Gelassenheit, freie Zeit, die Kinder sind groß und aus dem Haus, Reisen und weniger Probleme ein.
    An alten Menschen mag ich nicht, wenn sie die jungen grundlos anmeckern, alles besser wissen und untolerant sind. Ihre ätzende Ungeduld an der Supermarktkasse stört mich sehr. Als müssten sie gleich zum Schichtdienst. Das ist einfach raumeinnehmend. Manchmal habe ich das Gefühl, ein ganzes Heer aus Rollator-Fahrern ist unterwegs und lässt keinen Platz mehr für andere.
    Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie Lebenserfahrung haben, die sie aber nicht jedem aufs Auge drücken wollen. Eben wirklich weise sind. Die Dinge in einem anderen Licht betrachten und das auch so ausstrahlen.
    Wenn ich ganz plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich mein Handy mitnehmen.
    Ich sehe mich als 86-Jährige mit weißem, langem Haar. Das ist schön eingeflochten. Ich sitze in einem Strandkorb und lese ein Buch. Neben mir liegt mein Hund. Ich trinke einen Milchkaffee und habe alle Zeit der Welt.

Kapitel 3
     
    »Sie hat einen Zauber ausgesprochen«, klang es in mir nach. Die Kieselsteine knirschten unter meinen energischen Schritten. Und mit welcher Ernsthaftigkeit Mama mich vor diesem Zauber warnen wollte. Sie hatte schon immer viel Fantasie und an Dinge zwischen Himmel und Erde geglaubt, die schwer nachzuvollziehen waren. Und sie hatte uns damit genervt. Nicht uns, korrigierte ich mich widerstrebend. Lena hatte ihre Geschichten geliebt. Lena .
    Ich warf meinen Kopf in den Nacken. Lena war tot. Jetzt ging es um Mama. Sie hatte sich geistig verirrt und brauchte eindeutig meine Hilfe.
    Ich nahm mir vor, am nächsten Tag einen Termin bei Björn für sie zu machen. Ein hervorragender Internist. Vielleicht hatte sie nur einen Altersdiabetes entwickelt. Das wäre mir
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