Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
Vom Netzwerk:
gequält auf. »Der Spruch von dir hat auch einen Bart, Mama. Fehlt nur noch dein Lieblingsvergleich mit dem Bummelzug. Mit dem kann ich noch fahren, wenn ich alt bin.«
    »Mach‹ da keine Späße darüber. Genau um das Thema geht es.«
    »Also, Mama, ich weiß nicht, was du so vorhast, aber ich muss jetzt arbeiten! Das Wartezimmer ist randvoll.«
    »Wie traurig.«
    Ich verzichtete auf eine Antwort. Aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund legte ich nicht auf, sondern hörte mir weiter ihre Litanei an.
    »Warum lässt du dir nicht mehr Luft zwischen den Terminen. Das würde dir und auch deinen Patienten guttun.«
    Ich zog tief die Luft ein und dachte: aber nicht meinem Portemonnaie.
    Auch so eine von Mamas Lebensphilosophien, die mir gehörig auf die Nerven gingen: Eile mit Weile. Sollte sie ihre hochgepriesene Langsamkeit leben. Bitte sehr. Ich war nun einmal anders als sie. Ich arbeitete schneller und strukturierter. Und ich arbeitete gern. Ich nahm auch die Errungenschaften der Pharmaindustrie in Anspruch, ohne ihnen so was wie Schwarze Magie anzudichten. Meine Mutter war der Ansicht, die meisten Psychopharmaka wären überflüssig. Es gäbe andere Lösungen. Die Menschen wären einfach nur einsam. Rosarotes Denken und Früchte ihrer Gebetskreisbesuche und Faseleien ihrer buddhistisch angehauchten Yogatanten. Aber vor allem ihrer verhuschten Freundin Lilly. Wenn ich in jedes Patientengespräch Herzblut investieren würde, ginge ich bald den Bach runter. Nicht nur finanziell. Meine Mutter hatte noch nichts von einer professionellen Sachebene und gesunder Abgrenzung gehört. Der Beweis dafür war ihr Anruf.
    »Mama, es reicht. Ich lege jetzt auf.«
    »Nein, Michelle, das tust du nicht!« Ihre Stimme klang ungewohnt scharf. »Erst versprichst du, heute Nachmittag zu mir an den See zu kommen. Wir müssen uns treffen. Ich werde für längere Zeit verreisen. Vorher muss ich dich sprechen.«
    »Wie – verreisen?« Meine Mutter war ein absoluter Reisemuffel und fühlte sich an ihrem See wohl. Sie behauptete mit Inbrunst, um sich zu finden, brauche man nicht weit wegzufahren. Woher kam der plötzliche Sinneswandel?
    »Wo willst du denn hin? Etwa ans Ende der Welt, wo es kein Telefon mehr gibt?«
    Meine Mutter atmete hörbar durch.
    »Ja, Michelle, so ungefähr. Aber das kann ich dir nicht erklären. Wir werden uns auf jeden Fall eine längere Zeit nicht sehen und auch nicht sprechen können. Deshalb muss ich vorher«, sie zögerte, »sozusagen meine Hinterlassenschaft regeln.«
    Zum Glück war ich allein im Zimmer. Mein Unterkiefer rutschte nach unten und gab mir unter Garantie ein dümmliches Aussehen. Eine unschöne Angewohntheit, die ich mir seit meiner Pubertät abzutrainieren versuchte.
    »Du meinst das ernst«, wiederholte ich stumpf.
    »Ja, todernst. Wir sehen uns um 17 Uhr hier bei mir am See.«
    Damit beendete sie das Gespräch, und nicht ich.
    Ich starrte auf den Hörer. Hinterlassenschaft regeln. Das hörte sich wie aus einem anderen Jahrhundert an. Leider fühlte es sich für mich nicht so weit entfernt an, und das wusste meine Mutter. Sie war durchaus wohlhabend, und ich konnte mich einmal auf ein nettes Sümmchen freuen. Und jetzt war meine Mutter auf irgendeinem Trip. Hatte sie doch eine latente Demenz entwickelt? Es waren mir bislang keine Anzeichen aufgefallen. Selbst ihr Kurzzeitgedächtnis schien intakt zu sein. Allerdings hatten wir uns lange nicht gesehen, nur miteinander telefoniert. Was hatte meine Mutter vor? Mit Sicherheit steckte ihre durchgeknallte Lilly dahinter.
    Das Telefon klingelte. Ich schreckte zusammen. Nele.
    »Frau Dr. Meinberg. Ist alles in Ordnung?« Ihre Stimme klang weich und mitfühlend. Ganz und gar nicht, dachte ich und sagte: »Ja, ja, danke, Nele. Wer ist der Nächste?«
    »Herr Boll.«
    Wenigstens ein Lichtblick. Ein netter Schizophrener. Er kam in regelmäßigen Abständen. Das letzte Mal hatte er sich Sorgen gemacht, weil die Amseln sich im Garten zusammenrotteten und feindselig auf sein Schlafzimmerfenster starrten. Er vertraute mir und brauchte lediglich die Bestätigung, dass die Beobachtung nur seiner Fantasie entsprang, und manchmal eine Medikamentenerhöhung. Wie gut. So aufgewühlt, wie ich gerade war, hätte mir ein Neupatient, der seine Kindheitstraumen aufarbeiten wollte, gerade noch gefehlt.
     
    Interview: männlich, 56 Jahre
     
    Zum Wort ›alt‹ fallen mir Falten, Rückenschmerzen, Vergesslichkeit, Genießen, Zeitlassen, Whiskey, mit meinem Opa Kirschen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher