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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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von allen Möglichkeiten die angenehmste Erklärung gewesen. Gegen Diabetes gibt es Medikamente und Diätberater. Und ich musste auf jeden Fall einen Kernspin machen lassen, um einen hirnorganischen Prozess auszuschließen. Dann würde ich weitersehen.
    Als ich am Parkplatz ankam, schwitzte ich schon wieder aus allen Poren. Zum Glück wehte mittlerweile ein leichtes Lüftchen und kühlte den klebrigen Film auf meinem Körper. Ich klickte die Autotüren auf und wollte sie schon öffnen, als ich den Zettel unter dem Scheibenwischer entdeckte. Ich zerrte ihn heraus und las: Parken müsste man können! Vielen Dank! 
    Der Wagen rechts war weg. Na also. Warum noch diesen blöden Schmierzettel kritzeln? Ich knüllte das Papier zusammen und pfefferte es auf den leeren Platz. Wichtigtuer! Ich drehte mich um und blickte direkt auf den Campingplatz. Lilly. Dem Mittwochnachmittag war sowieso jede Struktur genommen, und ich war gerade in der richtigen Stimmung, um mir Lilly vorzuknöpfen. Ich verriegelte die Türen wieder und marschierte los.
    Lilly war Mamas beste Freundin. Die beiden hatten sich als junge Frauen an der Uni kennengelernt. Lilly hatte Latein und Altgriechisch studiert. Mama Englisch und Deutsch. Getroffen hatten sie sich in einer Philosophievorlesung.
    Mama hat ihr Studium nie beendet. Sie hatte meinen Vater kennengelernt. Er war Kapitän auf einem Ozeanriesen. Mama hat für ihn alles über den Haufen geworfen und aufgegeben. Nur Lilly nicht. Wenn Mama mit meinem Vater auf See war, haben sie und Lilly sich lange Briefe geschrieben, und wenn sie wieder an Land waren, sofort getroffen. Dieses Seefrauenleben hatte Mama erst nach meiner Geburt aufgegeben. Aufgeben müssen. Ich war nicht seetauglich. Ich habe Berichten zufolge auf dem schwankenden Untergrund meine Nahrung ständig erbrochen. Zu dem Zeitpunkt war Mama schon 36 Jahre alt. Ich habe nie nachgefragt, ob sie sich ein Baby gewünscht hatten, oder ob ich nur ein Unfall war. Denn irgendwie passte gar kein Kind in das langjährig eingespielte Seefahrtsleben meiner Eltern.
    Wenn mein Vater zu Hause war, hat er mit mir gespielt und gelacht. Er war ein fröhlicher Mensch. Er ist mit mir viel spazieren gegangen. Diese wunderbaren Wanderungen endeten immer am Ufer des Sees. Wir saßen auf einer Bank und aßen unser Picknickbrot. Wir beobachteten die eleganten Schwäne oder die vorüberziehenden Wolken. Und wir redeten nicht. Am Wasser war mein Vater immer still und hing seinen Gedanken nach. Manchmal versuchte er, mich auf ein Ruderboot zu locken, was ihm auch gelang. Ich wäre mit ihm überall hingegangen. Aber kaum waren wir auf dem Wasser, da musste ich mich übergeben und beruhigte mich erst wieder, wenn ich festen Boden unter den Füßen spürte. Mein Vater hat es sich nie anmerken lassen, obwohl es eine herbe Enttäuschung für ihn gewesen sein muss. Ich habe ihn geliebt, und wenn er wieder mit dem Schiff unterwegs war, auf ihn gewartet. Genau wie Mama.
    Lilly wurde Lateinlehrerin am Gymnasium und blieb Junggesellin. Sie besuchte uns mittwochs am späten Nachmittag. Jeden Mittwoch. Auch wenn mein Vater zu Hause war. Sie brachte frisches Thüringer Mett und Schwarzbrot mit, und Mama hackte Zwiebeln. Dazu tranken sie ein dunkles Bier. Sie saßen in unserer Küche und hatten Kerzen an. Sie schickten mich nie weg. Aber ich fühlte mich bei ihnen nicht wohl. Lilly schien die ganze Küche auszufüllen. Das lag nicht nur an ihrer Körperfülle, die beachtlich war. Ihre Ausmaße hatten mich als Kind gleichermaßen abgestoßen wie fasziniert. Die dicke Lilly trug bunte afrikanische Kaftane. Manchmal verfing sich mein Blick in den wilden Mustern, und ich bildete mir ein, in ihnen Gesichter zu erkennen. Böse, grinsende. Nachts tauchten sie in meinen Träumen auf. Zusammen mit Lilly. Sie liefen mit ihr als Anführerin laut lachend hinter mir her und wollten mich fangen.
    Wenn ich am Küchentisch saß und Lilly mich besonders freundlich ansah, wusste ich, sie hat meine Träume gekannt. Das machte mir Angst. Deshalb ließ ich die beiden allein und ging lieber auf mein Zimmer.
    Lilly war auch an Mamas Seite, als mein Vater von einer seiner Fahrten nicht zurückkam. Er starb keinen Seemannstod, sondern ein schnöder Herzinfarkt brachte ihn zu Fall. Da war ich gerade acht Jahre alt. Später hat sie Mama getröstet, als Lena gestorben ist. Sie war Mama immer näher als ich. Und jetzt – jetzt plusterte sie sich sogar als Hexe auf.
     
    Die kleine Rezeption des
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