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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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sein Tablett wie eine Opfergabe an. »Benediktiner, Crème de menthe, Sliwowitz, Geschenk des Hauses«, wiederholte er im Rhythmus einer Litanei.
    Elvira griff nach einem Benediktiner. »Benedicite vos.« Ihre feierlich erhobene Stimme kippte plötzlich. »Weiß denn niemand, wie das weitergeht?«
    Sophie versuchte ihr das Glas aus der Hand zu nehmen. »Elvira, du darfst doch keinen Alkohol trinken!«
    »Sagt wer?«
    »Ihr Arzt, gnädige Frau.« Die Betreuerin, die sich während Stefanies Ausbruch möglichst unsichtbar gemacht hatte, versuchte einzugreifen.
    »Ich bin nicht gnädig und der Arzt kann mich«, sagte Elvira hoheitsvoll. Als sie Friederikes und Sophies strafende Blicke sah, fügte sie hinzu: »Wenn er brav ist.« Sie tätschelte die Hand ihrer Betreuerin, lächelte listig, brach übergangslos in Tränen aus, unglaublich große Tränen, die aus festerem Material zu bestehen schienen als nur salzigem Wasser. Seifenblasen, dachte Patricia und schüttelte gleich darauf den Kopf. Nein, Seifenblasen platzten schnell, diese Tränen schienen dauerhaft an den schütteren Wimpern zu hängen.
    »Warum sagt mir denn keiner, was los ist?« Elvira zeigte auf Alfred. »Und was will der da? Er stört.«
    Da niemand anderer antwortete, sagte Alfred Schreiber: »Da haben Sie leider recht, ich störe, aber nicht im eigenen Auftrag. Edith hat mich gebeten …«
    Elvira unterbrach ihn. »Das sieht ihr ähnlich. Immer müssen andere für sie die Kastanien aus dem Feuer holen. Sie will für alle die Gute sein, die unangenehmen Dinge müssen andere für sie erledigen. Warum sagt sie nicht selber, was sie zu sagen hat?«
    »Weil sie nicht mehr lebt. Sie ist gestorben, wir haben sie heute begraben und sind hier, um noch einmal gemeinsam an sie zu denken. Mich hat sie beauftragt, die Familie in Kenntnis zu setzen von ihren Wünschen bezüglich des Hauses.«
    Eine Träne rollte über die runzelige Wange, blieb in ihrem Mundwinkel hängen, mit einer Bewegung, die an einen Gecko erinnerte, schnellte Elviras Zunge hervor, verschwand wieder. Elvira wandte sich mit einem süßen Lächeln an Alfred. »Reden Sie immer so geschraubt?«
    »Nur, wenn ich mich unsicher fühle.«
    »Sie sind ein Lieber«, sagte Elvira. »Sie dürfen bleiben.« Sie musterte Alfred mit dem starren Blick, den sonst nur Vögelund ganz kleine Kinder haben. »Ditta ist tot, haben Sie gesagt? Einfach gestorben? Ohne sich zu verabschieden?«
    »So ist es. Es tut mir leid.«
    »Ihnen braucht das nicht leidzutun. Oder haben Sie sie umgebracht? Na eben. Jetzt hat sie mir wieder eins voraus. Wie immer. Aber warte nur, ich hole dich schon noch ein. Was mach ich hier ohne dich, du ekelhafte Person? Kalt ist es. Warum dreht keiner die Heizung auf?«
    Elviras Schal war heruntergerutscht, die Betreuerin legte ihn ihr wieder über die Schultern. »Den Schal hat mir Ditta geschenkt, zum Geburtstag«, flüsterte Elvira. »Kaschmir und Seide, ganz leicht.« Sie richtete sich mit großer Anstrengung im Rollstuhl auf. »Dass keiner von euch glaubt, ihr könntet mir zuvorkommen! Jetzt bin ich dran, verstanden?«
    »Ist ja gut, Elvira, ist ja gut«, sagte Sophie.
    »In diesem Jahr wünsche ich keinen Geburtstag zu haben. Weder am 17. Oktober noch an sonst einem Tag.« Elvira erwartete keine Antwort auf ihre Proklamation. »Das wäre erledigt«, setzte sie hinzu und schloss die Augen. Fast unmittelbar darauf schnarchte sie leise und rhythmisch.
    »Man kann sagen, was man will, Tante Elvira hat sich ihre Würde nicht nehmen lassen. Sogar ihr Alzheimer hat Stil«, murmelte David Patricia zu, aber offenbar nicht leise genug.
    Stefanie fuhr aus ihrer Erstarrung auf, beugte sich drohend vor.
    »Im Gegensatz zu mir, willst du wohl sagen?« Ihre Wangen, ihre Kinnpartie zitterten, was ihren Ausbruch jämmerlich ins Leere laufen ließ.
    »Es geht nicht immer um dich, Großmama«, sagte David. »Manchmal ist auch von anderen Leuten die Rede.«
    F. T. sandte ihm einen vernichtenden Blick, holte Atem, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
    Alfred Schreiber rang seit einiger Zeit unglücklich die Hände, richtete sich auf, nahm mit sichtlicher Anstrengung seinen Mokkalöffel und schlug damit ans Glas.
    Er müsse sich entschuldigen, er sei offenbar der Aufgabe, die Ditta ihm anvertraut habe, nicht gewachsen gewesen. Anscheinend habe er sich so missverständlich ausgedrückt, dass er Dittas Wunsch, über das im Testament Verfügte hinaus ihre Absichten klarzumachen und alle Familienmitglieder und
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