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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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es gesagt ist. Aber ich will das Haus nicht.«
    Alle redeten auf sie ein, sie müsse Ditta doch erlauben, vergangenes Unrecht gutzumachen, schließlich sei es ihrVermächtnis, kein Geschenk, sondern redlich verdient. Wenn überhaupt jemand zur Familie gehöre, dann sei es sie.
    Marie schüttelte den Kopf.
    Ihr Sohn schwieg und kaute an seiner Unterlippe.
    Friederike nahm Maries Rechte in ihre beiden Hände. »Solang du da wohnst, ist es auch noch Mamas Haus. Es wäre gut zu wissen, dass du da bist, und wenn das alles vorbei und ein bisschen Gras gewachsen ist, dürfen wir dich vielleicht besuchen, und …«
    »Vielleicht backst du sogar einen Mohnstrudel für uns«, sagte David.
    Ein ganz kleines Lächeln zuckte in Maries Mundwinkeln. »Den kannst du auch haben, wenn ich nicht im Haus wohne.«
    »Aber er wird nirgends so schmecken wie in deiner eigenen Küche.«
    »Walum?«, fragte Rainer. »Walum?«
    David erklärte ihm, dass in Maries Küche der Duft von tausend Mohnstrudeln und ebenso vielen Nussstrudeln, von Buchteln und Schokoladetorten, von Zimt und Nelken und abgeriebener Zitronenschale, von Lebkuchen und Vanillekipferln hing und jedem Teig einen ganz besonderen Geschmack verlieh, den es nirgends sonst auf der Welt gab.
    Rainer lachte. Er versuchte, das schwierige Wort Schlaraffenland auszusprechen, das in seinem Mund eher wie Schalaffenland klang, ein R schaffte er nur, wenn er das Rasseln eines Weckers nachmachte, dann allerdings war er nur mit Mühe wieder abzustellen. Aus Schalaffenland wurde Laffenland und zuletzt Affenland. Marie schloss die Augen und lehnte ihre Stirn an seinen strubbeligen Hinterkopf. Er kuschelte sich an sie. Und sie hält sich an ihm fest, dachte Patricia. Halten, damit man gehalten wird. Damit man nicht ins Bodenlose fällt. Vielleicht ist es das.
    Jonathan, der die ganze Zeit geschwiegen und aus halb geschlossenen Augen die Anwesenden der Reihe nach gemustert hatte, sagte leise: »Wenn wir schon angeblich unbehaust sind, wollen wir doch wenigstens unsere Bilder an die nicht vorhandenen Wände hängen, das musst du uns erlauben, Marie.«
    Eberhard starrte seinen Enkel an, plötzlich begann er zu lachen. »Sieh einer an«, murmelte er kopfschüttelnd. »Sieh einer an.«
    Marie zupfte ihn am Ärmel. »Was meint er bitte?«
    »Weiß ich auch nicht. Vielleicht will er dein Untermieter werden.« Eberhard lächelte ihr zu.
    Friederike schüttelte den Kopf, verkroch sich resignierend zwischen ihre Schultern.
    Sophie beugte sich zu Theresa. »Geht’s dir gut?«
    Theresa nickte, biss in ihren Daumenballen. Sophie flüsterte ihr ins Ohr: »Ist doch nicht schlimm. Heutzutage nicht mehr, du schaffst das! Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …«
    Theresa schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Gar nichts. Das ist es ja, dass nichts ist. Aus und vorbei.« Sie brach ab: Sophie tätschelte ihre Schulter. »Bitte nicht«, flüsterte Theresa, »sonst fang ich an zu heulen.«
    »Bei Begräbnissen darf man weinen«, sagte Sophie halblaut.
    Theresa drückte ihre Hand. »Zuerst war ich entsetzt, und jetzt bin ich sehr traurig.«
    Sophie nickte. Sie reichte Theresa ein Päckchen Taschentücher. »Du weißt ja nicht, wie gut ich dich verstehe.«
    »Ich versteh mich selbst nicht«, murmelte Theresa. Sophie setzte zum Sprechen an, Theresa unterbrach sie. »Nein, gibt’s nicht, geht nicht. Aus.«
    Zwischen den Doppelfenstern surrte eine Fliege. Die Luft im Extrazimmer war abgestanden.
    Sogar Louise hing mehr in ihrem Sessel, als dass sie saß.
    Wie aufs Stichwort erschien Alban und fragte, ob er ein Fenster öffnen dürfe. Es war wie eine Erlösung, als vom Gastgarten ein leichter Lindenduft hereinströmte.
    Eberhard stand auf. Es sei vielleicht an der Zeit, die Tafel aufzuheben, sagte er. Er hoffe sehr, dass Marie sich dazu entschließen könne, Dittas Angebot anzunehmen, es sei gewiss für alle das Beste, ganz besonders für Stefanie und Friederike. Er hoffe auch, dass die Familie, die ja doch, trotz allem und vielleicht jetzt erst recht, eine Familie sei, sich demnächst wieder und bei einer glücklicheren Gelegenheit zusammenfinden werde. »Jeder von uns hat eine andere Ditta begraben, vielleicht ist gerade das der richtige Tribut an eine besondere Frau. Sie war gewiss nicht der Übermensch, als den sie einige von uns gesehen haben, sie hatte ihre Fehler und Macken, und dafür sollten wir dankbar sein. Vielleicht ist es die Summe unserer Fehler und Schwächen, die uns zu Menschen macht und uns den
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