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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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greifen, dass er in ihr eine kleine Schwester sah. Jeden Mann, der sie von der Arbeit abholte, unterzog er einer so gründlichen wie offensichtlichen Musterung, stand dabei plötzlich nicht schmalbrüstig, sondern mit breit nach hinten gezogenen Schultern, und Hanka hielt es nicht für nötig, den Irrtum aufzuklären, wenn eben noch überhebliche Knaben Alban beinahe kleinlaut versprachen, auf seine Schwester aufzupassen. Sie bestärkte die Kerle noch in ihrem Glauben, stellte sich neben Alban auf die Zehenspitzen und streifte seine linke Wange mit einem Hauch von einem Busserl. Eine Art Tanz war es, was die drei aufführten, kompliziert choreographierte Schritte, jede Rolle so besetzt, dass die Erwartungshaltungen
der Zuseher sie automatisch in die Irre führten. Wenn der Wirt ausnahmsweise nicht nur auftauchte und sich mit einem Stammgast in der Fensternische einrichtete, sondern sich in die Arbeit einmischen zu müssen glaubte, geriet alles durcheinander und es konnte sogar vorkommen, dass Alban einen Tisch mit einer Bewegung abwischte, als wollte er eine besonders lästige Fliege erschlagen. War der Wirt nicht da und auch sonst wenig Betrieb, dann konnte Lisa an dem kleinen Tisch in der Küche ihre Arbeiten korrigieren und Alban schaffte es immer, sie rechtzeitig zu warnen, bevor der Wirt bis zur Küche vordrang. Das Gasthaus, fand Lisa, war eine perfekte Ergänzung zu den Theorien in Seminaren und Vorlesungen. Heute bestand allerdings keine Chance für eine ungestörte Viertelstunde am Computer. Eben war die erste Trauergesellschaft gegangen. Drei Fiakergulasch, ein Herrengulasch, zwei Würstel mit Saft, eine serbische Bohnensuppe, zweimal saure Wurst, drei Blunzengröstl, fünf Apfelkuchen, dreimal mit, zweimal ohne Schlag, neun Krügel, fünf Seitel Bier, viermal Weiß gespritzt, sechs Kaffee Melange, fünf Obstler. »No jo« , sagte Alban, als er das Trinkgeld abzählte.
    »Nach Mittag hat er Wetterbesserung versprochen« , erklärte die Köchin.
    Er, der Meteorologe, oder vielleicht sogar er, der Radioapparat. In jedem Fall »er« , selbst dann, wenn eine Frau die Wettervorhersage lieferte.
    Die Glocke an der Eingangstür bimmelte. Hanka ging hinaus, um den Gästen die Mäntel abzunehmen. »Alles Mantel superschick« , berichtete sie, als sie in die Küche zurückkam. »Erste Klasse.«
    Bärbel lachte. »Das heißt noch lange nicht, dass auch die Trinkgelder erste Klasse sein werden.«
    Alban goss Prosecco in die bereitgestellten Gläser, Lisa nahm einen Stapel Speisekarten unter den Arm. Bärbel grinste. Normalerweise wurde in diesem Beisel nicht Prosecco vor dem Essen serviert, aber so war es bestellt worden, so wurde es serviert, und so würde es bezahlt werden.
    Die junge Frau in einer sonnengelben Seidenbluse wirkte wie eine Fremde unter all den schwarz Gekleideten. Trauergäste trugen Schwarz, das war normal, das Schwarz dieser Familie wirkte schwärzer, weil die gelbe Bluse so hervorleuchtete. Und der Nehru-Anzug des großen Braungelockten, hochgeknöpft bis zum Stehkragen, ließ an ein Fest denken, nicht an Trauer.
    Die Leute standen verlegen herum, das war nicht nur die Beklommenheit, die jeden überfiel, der gerade sein Schäufelchen Erde auf einen Sarg geworfen und in die dunkle Grube seiner eigenen Zukunft geblickt hatte, es war die Verlegenheit von Menschen, die sonst damit rechnen durften zu wissen, was von ihnen erwartet wurde, die ihre Rolle so gut gelernt hatten, dass sie besser passte als die eigene Haut, die aber jetzt plötzlich ohne Skript und ohne Regisseur dastanden. Das Einzige, woran sie sich halten konnten, waren ihre Proseccogläser. Der große Dicke wird gleich den Stiel abbrechen, dachte Lisa, der ist offenbar gewöhnt, dass immer jemand neben ihm steht, oder besser gesagt einen halben Schritt hinter ihm, und ihm das Glas abnimmt, sobald er getrunken hat. Die Frau, die ihm ein Fädchen oder ein Haar vom Revers gepflückt und es mit spitzen Fingern weggeschnippt hat, denkt gar nicht daran. Es sieht fast aus, als weide sie sich an seiner Hilflosigkeit.
    »Gibt es eine Tischordnung?« Die Stimme der Frau war überraschend tief und angenehm.
    Es gab keine, sie warteten unschlüssig, und als sie endlich
saßen, wünschten ganz offensichtlich die meisten, sie hätten andere Nachbarn. Lisa bekam Mitleid mit ihnen und verteilte die Speisekarten. So waren sie wenigstens beschäftigt und konnten sich hinter Brillensuchen und intensivem Menüstudium verstecken.

David, 20
    Da sitzen sie,
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