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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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hast mich nie verstanden. Und ihr braucht garnicht zu grinsen.« Sie blickte einen nach dem anderen an, landete bei Marie. »Jetzt hast du, was du immer gewollt hast. Erbschleicherin.«
    »Niemand grinst«, sagte Eberhard.
    Andreas pflanzte sich vor Stefanie auf. »So redest du nicht mit meiner Mutter!«
    »Du hast hier überhaupt nichts zu sagen, du … Wer weiß, ob Fritz überhaupt dein Vater war!«
    »Das nimmst du sofort zurück.«
    »Ich denke nicht daran.« Sie hob die Arme in einer theatralischen Geste, die sie plötzlich ihrer Mutter ähnlich sehen ließ, einen Augenblick später sackte sie zusammen wie eine Marionette, die dem Spieler aus den Händen gefallen war, und begann zu schluchzen.
    Maries Gesicht war grau, nur die bebenden Nasenflügel verrieten, dass sie nicht völlig versteinert war. Patricia trat zu ihr, nahm sie in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung nicht, wehrte sich aber auch nicht dagegen. »Verzeih uns«, flüsterte Patricia. »Bitte verzeih uns.«
    »Wieso uns?«, fragten mehrere gleichzeitig. »Was hast du damit zu tun? Was haben wir damit zu tun?«
    Sie schüttelte den Kopf, wiegte Marie in ihren Armen wie ein Kind. David antwortete an ihrer Stelle. »Weil meine Großmutter den ganzen Hochmut dieser verdammten Familie zum Ausdruck gebracht hat, wofür wir uns alle entschuldigen müssen. Gleichzeitig hat sie uns vorgeführt, dass dieser Hochmut nicht so viel Berechtigung hat.« Er schnippte mit den Fingern. »Wir stehen im Regen wie der letzte Sandler. Wenn es darauf ankommt, verehrte Verwandte, können wir uns nicht einmal auf unsere berühmte Lebensart verlassen. Urgroßmutter hat völlig recht, wir stehen alle in Maries Schuld. Besser wäre es allerdings gewesen, sie hätte das allesgesagt, als wir ihr noch hätten antworten können. Vielleicht hat sie sich nicht getraut.«
    »Sie soll sich nicht getraut haben?«, rief F. T. »Du spinnst wohl!«
    »Das ist durchaus möglich, Großpapa, aber in diesem Punkt habe ich recht. Dittaoma wollte uns alle mögen können bis zuletzt, sie wollte sich nicht schämen müssen für uns, so wie wir uns jetzt schämen.«
    Eberhard öffnete den Mund, schüttelte den Kopf, schließlich sagte er: »Vielleicht hat sie nichts gesagt, weil sie Angst davor hatte, Marie könnte ihr dankbar sein. Das wäre eine Ohrfeige gewesen. Damit hätte sie nicht umgehen können.«
    »Vielleicht war Mama einfach zu feig«, murmelte Friederike. »Zu feig, um zu tun, was sie für richtig hielt.«
    Stefanie sprang auf. »Ich hätte große Lust, dir eine Ohrfeige zu geben!«
    »Tu’s doch!«
    Die Schwestern wandten sich einander zu, wirkten wie zwei Boxer, was total lächerlich war und gleichzeitig eine seltsame Würde hatte.
    »Hast du es so dringend nötig, sie groß zu sehen? Kannst es nicht aushalten, dass auch sie nicht so war, wie sie sein wollte?«, fragte Friederike nach endlos langen Minuten.
    »Ja«, sagte Stefanie.
    Elvira stieß sich mit erstaunlicher Kraft vom Tisch ab, ihre Betreuerin schaffte es gerade noch, den Rollstuhl zu fassen, bevor er an die altdeutsche Kredenz krachte. »Wer soll sich schämen?« Der larmoyante Ton schnitt durch die schwere Stille. »Ich schäme mich nicht! Ich hab mich ausgeschämt, lange schon. Edith, niemand redet mit mir. Sag du, was los ist. Ich glaube, die sind alle verrückt geworden.«
    »Amen«, flüsterte Friederike.
    Alban trat ein, ein Tablett mit Schnapsgläsern in der Hand. F. T. war es nicht gewöhnt, von Erinnerungen überfallen zu werden, aber in diesem Moment spürte er Staub zwischen den Zähnen, roch den beißenden Rauch brennender Hirsestängel, sah die erhobene Trompete des Sergeanten bei der Einholung der Fahne. Oder war es ein Horn? Blinkendes Metall jedenfalls. Mit demselben feierlichen Gesicht, mit derselben Würde, demselben Ernst, hatte ein Grenzsoldat die Fahne gefaltet und an seinen Vorgesetzten übergeben. Wo war das gewesen? Irgendwo in Westafrika. Er sah die perfekt gebügelten Khaki-Uniformen, die straffen Rücken der jungen Männer, sah aus dem Augenwinkel die junge Frau mit einem Tablett voll glänzender Früchte auf dem Kopf. Zuerst war ihm das Zeremoniell beim Einholen der Fahne vorgekommen wie ein Kinderspiel, beinahe wie ein ironisches Nachäffen der Rituale der ehemaligen Kolonialherren, dann hatte er plötzlich geahnt, dass die allabendliche Feier eine Art Selbstversicherung bedeutete, hier zu sein, auf diesem Boden, zu dieser Stunde, Herren im eigenen Land.
    Alban umrundete den Tisch, bot
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