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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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herüber. Wusste sie etwas? Kaum. Ditta war eine alte Geheimniskrämerin, war eine alte Geheimniskrämerin gewesen. Stefanie stand auf, flüsterte Friederike etwas ins Ohr. Er musste anfangen.
    Sein linkes Bein machte Schwierigkeiten, er verlagerte das Gewicht auf den rechten Fuß, jetzt stand er. Eberhard blickte auf.
    Alfred Schreiber schlug mit dem Kaffeelöffel an sein Wasserglas. Jetzt waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Er faltete das Blatt auf, ärgerte sich, dass er vergessen hatte, seine Brille noch einmal zu polieren, links unten war eine lästige Schliere, und er hätte größer schreiben sollen, Ditta hatte oft über seine Schrift geklagt.
    »Liebe Freunde. Ich sehe. Sie wundern sich. Dass ich das Wort ergreife. Unsere – ich darf wohl sagen Unsere. Auch wenn ich nicht. Anders als die meisten von Ihnen. Zur Familie gehöre. Aber Edith hat. Und glauben Sie mir, ich habe nicht darum gebeten. Ich wollte, sie hätte es nicht getan. Sie hat mir. Eine Aufgabe übertragen. Ich musste ihr mein Wort geben. Gerade heute zu Ihnen zu sprechen. Am Tag, an dem wir sie. Begraben haben.«
    Er suchte nach seinem Taschentuch. Wieso war es nicht in der rechten Hosentasche, wo es hingehörte? Nur er selbst konnte es in die linke gesteckt haben, das war ein schlechtes Zeichen. Er konnte jetzt nicht losheulen, also wirklich nicht, es war auch unpassend, sich geräuschvoll zu schnäuzen. Einmal kurz an die Nasenlöcher tupfen, das ging gerade noch.
    »Es war Ditta wichtig, dass Sie alle gleichzeitig. Von ihren Wünschen in Kenntnis gesetzt würden. Nach einem guten Essen, sagte sie. Und das Essen war doch gewiss hervorragend. Ditta hat das Lokal selbst ausgesucht. Wir waren einige Male miteinander hier. Sie hat mit der Köchin geplaudert und mit dem Kellner. Besser als die meisten Fünfstern-Lokale. Sagte sie. Aber ich schweife. Ab.«
    Du darfst nicht so abgehackt sprechen, ermahnte er sich. Hol gefälligst tief Atem und teile ihn dir ein bis zum Ende des Satzes. Jedenfalls hören sie jetzt alle zu, und wenn du nicht aufpasst, werden sie langsam ungeduldig. Reiß dich zusammen.
    »In den letzten Jahren wurde endlich die Frage der Wiedergutmachung thematisiert. Das Wort machte Edith wütend. Wie könne man wieder gut machen?, fragte sie. Das würde eine Restitutio ad integrum voraussetzen, und die sei leider denkunmöglich. Man könne zwar geraubtes Gut an die rechtmäßigen Besitzer zurückgeben, aber wie wolle man sie entschädigen für all die Jahre, in denen ihnen der Genuss dieses Guts verweigert war?«
    Siehst du, es geht ja. Komm endlich zur Sache.
    »Im Zuge dieser Überlegungen wurde ihr klar – und dies sind ihre eigenen Worte –, dass sie tief in Maries Schuld steckte. Ganz am Anfang hatte sie tatsächlich geglaubt, sie erweise Marie eine Wohltat. Bald war es selbstverständlich, dass Marie im Haus lebte, genau wie Edith selbst, wo denn sonst. Es war einfach so, wie es war, die Frage nach einer adäquaten Bezahlung oder einem Vertrag ist ihr nie in den Sinn gekommen. Ohne Marie hätte sie ihre Arbeit nicht machen können, der Wohlstand, den sie in den Jahren nach dem Krieg erwirtschaftete, war letztlich Marie zu verdanken, sagte Edith. Für einen lächerlichen Hungerlohn hat ihr Marie die ganze Verantwortung für Haus und Familie abgenommen und steht jetzt ohne irgendeine Sicherheit da. Deshalb hat Edith beschlossen, Marie das lebenslängliche Wohnrecht im Haus zu übertragen und dazu den Ertrag aus ihrer Lebensversicherung, der Marie ein Auskommen und die Erhaltung des Besitzes sichern soll. Für den Fall, dass David und Patricia im Haus leben wollen, was sie sehr freuen würde, sollen der zweite Stock und das Dachgeschoss aus dem Gesamterbe in zwei Wohnungen umgebaut werden. Alle Einzelheiten sind in ihrem Testament festgelegt, aber Edith wollte nicht, dass Sie diese Verfügungen in der strengen Atmosphäre einer Notariatskanzlei erfahren. Es war ihrklar, dass Sie die Möglichkeit haben, ihren letzten Willen anzufechten, sie bittet Sie aber, darin keine Kränkung und Geringschätzung zu sehen, sondern vielmehr das Vertrauen Ihrer Mutter und Großmutter in Ihre eigene Kraft und Ihren Sinn für Gerechtigkeit.«
    Alfred wirkte wie ein Läufer, der eben die Ziellinie überquert hat, er atmete lange aus, gestattete sich jetzt endlich, seine Nase zu putzen, nahm einen großen Schluck Wasser und setzte sich, ohne jemanden anzusehen.
    Tränen liefen Marie über die Wangen, der Kragen ihrer Bluse war bereits nass, sie
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