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Großmutters Schuhe

Großmutters Schuhe

Titel: Großmutters Schuhe
Autoren: Renate Welsh
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in die schwarze Pupille, begannen sich in einem wilden Strudel zu organisieren, drehten sich um diese Mitte. Plötzlich wurde alles rot, die Strahlen tauchten wieder auf, flohen aber von der Mitte nach außen. Ich weiß nicht, warum das bedrohlich war, ich riss die Augen auf, wurde geblendet vom Licht. Du hast gelacht wie ein kleines Mädchen, dem ein Streich gelungen ist. Auf dem Waldweg mit den vielen Wurzeln, die sich so gut unter den Fußsohlen anfühlten, sagtest du, jetzt hätte endlich auch ich eine Grenzerfahrung gemacht. Beim Apfelsaft auf der Terrasse vor der Hütte kamst du dann mit deiner Bitte. Warum habe ich mich nicht gewehrt? Schließlich kann man doch nein sagen, sogar zu dir muss man nein sagen können. Dass ich es nicht getan habe, liegt wohl daran, dass ich nicht damit gerechnet hatte, den Tag zu erleben, an dem ich das Versprechen einlösen müsste. Gleichzeitig bin ich auch neugierig, was passieren wird.
    Hättest du dir nicht ein weniger maulfaules Sprachrohr aussuchen können, Ditta? Ausgerechnet mir hast du das angetan, wo du doch weißt, wie schwer ich mich tue, vor Leuten zu reden und erst recht aus dem Stegreif. Ich bin nicht einmal sicher, ob ich deinen Namen aussprechen kann, ohne dass mir die Augen übergehen. Gut, das ist nicht das Schlimmste, die Rührseligkeit alter Männer ist ein bekanntes Phänomen.
    Bringen wir es also hinter uns. Du bist selbst schuld, dass du keinen Besseren genommen hast.
    Warum hast du mich nicht beauftragt, ihnen das Geheimnis zu verraten, das Geheimnis dieser letzten zwei Jahre, zehn Monate und sieben Tage? Dass es jenseits der hormonell gesteuerten Gewitter eine Erotik gibt, die genauso kribbelt und Gänsehaut erzeugt oder vielleicht sogar noch mehr, eine Zärtlichkeit, die dir die Brust sprengt? Hätte ich sowieso nicht sagen können, lässt sich vielleicht gar nicht erklären, wenn’s einer nicht sowieso erlebt, und dann braucht es keine Worte. Stimmt auch wieder nicht, es braucht Worte, aber das sind die allergewöhnlichsten, die plötzlich so geladen sind. Nie wieder werde ich eine Fliederknospe anschauen können, ohne zu heulen.
    Wenigstens aufs Klo gehen darf ich doch wohl, danach würde es wie eine Flucht wirken. Wäre es vermutlich auch. Feige bin ich geworden auf meine alten Tage. Vielleicht hängt das mit der schlaffen Blase zusammen. Hätte ich meinen alten Freund und Urologen fragen müssen, aber der hat inzwischen ganz andere Sorgen. Bei meinem letzten Besuch hat er mir erklärt, dass die moralische Verworfenheit der heutigen Jugend von der Toxoplasmose kommt, er wollte eine Arbeit darüber schreiben. Die Toxoplasmose zerstöre das Gen, das die Entwicklung einer ethischen Haltung ermöglicht, sagte er, und er stehe knapp vor dem endgültigen Durchbruch mit seinen Forschungen. Ich müsse unbedingt die Augen der Krankenschwester betrachten, die seinen Urinbeutel wechseln komme, die zeigten den typischen Arcus, der kurz vor dem Ausbruch der Krankheit auftrete. Es könne mir doch nicht entgangen sein, dass sie Patienten, männlichen Patienten natürlich, nie in die Augen blicke, sondern immer auf das Membrum virile. Nun gut, lasset uns also miktieren, wieer zu sagen pflegte, sofern ich es schaffe, ohne fremde Hilfe aufzustehen, und sofern ich meinen jämmerlich geschrumpften Pimmel noch finde.
    ***
    Einen Augenblick lang war Alfred Schreiber nicht sicher, ob er seine Hose richtig zugeknöpft hatte. Gerade jetzt wäre ein Toilettefehler mehr als peinlich. Er blickte an sich hinab, sein Bauch verstellte die Sicht. Eigentlich müsste er Ditta böse sein wegen der Zumutung, die allerdings auch eine Auszeichnung war. Die Hose hatte er zugeknöpft, natürlich hatte er sie zugeknöpft. Seine Finger erinnerten sich an die abgerundeten Ränder der Knöpfe. Manchmal waren die Finger verlässlicher als das Gehirn, das doch ein höchst störungsanfälliges Organ war, obwohl, also eigentlich konnte er sich nicht beklagen, sein Kopf reagierte immer noch verlässlicher als die Köpfe seiner wenigen noch lebenden Altersgenossen, sofern er es schaffte, die Abschweifungen in Grenzen zu halten, in denen sich sein Hirn immer heftiger austobte. Sollte er gleich stehen bleiben? Niedersetzen und Aufstehen war mühevoll. Nein, es war besser, noch einen Schluck Wasser zu trinken, sich kurz zu sammeln. Er hatte sich zurechtgelegt, was er sagen musste, hatte auch Notizen gemacht, er spürte das steife Papier, als er an seine Brusttasche griff. Patricia lächelte zu ihm
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