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Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)

Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Susanne Mischke
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Prolog
     
    Den zerbrochenen Spaten trug er wie eine Trophäe zum Geräteschuppen. Der Frühlingstag war kalt, aber er schwitzte unter seinem Arbeitskittel. Seine Kehle war trocken und die Hose zu eng. Schuld daran war der kleine Zettel in der Hosentasche, der Zettel mit der unmißverständlichen Botschaft: 14 Uhr, Geräteschuppen, alles, was du willst! Das war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er malte sich aus, wie es sein würde. Dort, wo er vorher zwei Jahre lang gewesen war, wäre sowas unmöglich gegangen, aber hier war alles viel lockerer. Bei der Gartenarbeit war man relativ unbeobachtet, wenn man es darauf anlegte, dann konnte man sogar abhauen. Aber das wollte er gar nicht. Wenn er keinen Scheiß baute, dann war in einem halben Jahr Schluß, dann wäre er frei. Er wollte, nein, er mußte nur um zwei Uhr in diesem verdammten Schuppen sein. Also hatte er vorhin den Stiel des Spatens auf einen Stein donnern lassen. Das Holz war sofort geborsten.
    »Hol dir einen neuen aus dem Schuppen, und paß nächstens ein bißchen auf«, hatte der Typ, der für die Gartengeräte zuständig war, gebrummt und war wieder hinter seiner Motorfräse hergelaufen.
    Für einen flüchtigen Moment bekam er Angst. Womöglich war das eine Falle, vielleicht wartete da drin eine Schwuchtel auf ihn, oder zwei oder drei. Denn die Botschaft war klar, nicht aber von wem sie stammte. Seine Bedenken wurden zerstreut, als er sich dem Ziel näherte. In der Tür stand ein Mädchen. Er sah nur das lange, dunkle Haar und ihren Körper, ein bißchen mager, aber unter den gegebenen Umständen durfte man nicht wählerisch sein. Unter dem T-Shirt zeichneten sich die Brüste ab. Ihr Gesicht sah er nicht, es lag im Schatten einer Baseball-Kappe, und auf das Gesicht kam es schließlich nicht an. Sie verschwand in der Tür, als sie ihn kommen sah. Er mußte sich zurückhalten, um die letzten Meter nicht zu rennen. Das würde auffallen. Er trat durch die Tür. Sein Blut kochte. Drinnen war es dunkel, er sah nichts, auch nicht das Blatt der Schaufel, das die Luft durchschnitt und gegen seine Stirn donnerte.
    Als er zu sich kam, saß er in einem Wagen. Der Wagen stand. Draußen waren Bäume, ein Wald. Sein Kopf tat weh, er wollte sich bewegen, aber etwas hielt ihn auf dem Sitz fest. Klebebänder. Er war mit Klebeband an den Sitz gefesselt, unfähig sich zu rühren. Vor dem Wagen sah er das Mädchen. Sie hatte einen Kanister in der Hand und schüttete Benzin über den Wagen und durch das offene Seitenfenster. Er konnte es riechen, das Benzin. Er öffnete den Mund zu einem Schrei. Sie lächelte. Dann riß sie ein Streichholz an und warf es unter den Wagen.

I.
     
    Der Nebel drang zwischen den Bäumen hindurch und hielt die kleine Gruppe in seiner feuchten Umklammerung, so daß die Stimmen und das Lachen wie durch Mullbinden gedämpft klangen. Jonas hatte etwas am Boden gefunden, das er dringend untersuchen mußte. Die anderen hatten sein Fehlen bemerkt und waren stehengeblieben.
    »Was gibt es denn da, Jonas?« fragte Raphael mit einem unterdrückten Seufzen.
    »Losung vom Schwarzwild«, erklärte Jonas. »Winterlosung, um genau zu sein.« Er hatte seine Digitalkamera umhängen, ein Geschenk seiner Eltern zu seinem neunten Geburtstag vor drei Wochen, am ersten März. Jetzt fotografierte er damit die schwarzbraunen Knollen.
    »Alter, ich halt’s nicht aus! Der knipst Scheiße!« krähte Daniel.
    »Das ist keine Scheiße, sondern Losung. Bei Wild heißt es Losung«, erklärte Jonas ernst. »Stimmt’s Raphael?«
    Der nickte. »Wenn du es sagst. Aber jetzt bleib bitte bei der Gruppe, sonst verlieren wir dich.« Raphael, der sechzehnjährige Gruppenleiter, hatte zu einem »morgendlichen Erkundungsgang« aufgerufen. Auf dem Rückweg sollte jeder der acht Jungen einen Armvoll Holz sammeln, damit sie ihre Jurte wieder heizen konnten. In der letzten Nacht war das Feuer ausgegangen, Jonas hatte im Schlafsack gefroren.
    Seit er vor zwei Jahren den Pfadfindern beigetreten war, war er allmählich zu einem Experten geworden, was Wald und Natur betraf. Er konnte alle Bäume identifizieren, auch im Winter. Er wußte die Namen der Sträucher, Farne und Wildblumen. Er erkannte, ob über der Lichtung ein Bussard kreiste, ein schwarzer Milan oder eine Kornweihe. Wenn er nicht mit dem Mikroskop seines Vaters experimentierte, las er Bücher oder Internetseiten über Tiere und Pflanzen. War das eine Misteldrossel, die da eben gerufen hatte? Oder doch eine Wacholderdrossel?
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