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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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1
    Der Junge lag auf dem Schoß der Mutter und schien zu schlafen. Er war zu groß für sie, ein Brocken von einem Achtjährigen, quer über den mageren Oberschenkeln der Mutter, die ihre Arme um seinen Leib und unter den blonden Kopf gelegt hatte, um ihn zu stützen.
    »Nicht«, sagte die Mutter fast unhörbar. »Nicht. Nicht. Nicht.«
    Das linke Auge des Jungen war geschwollen und von geronnenem Blut bedeckt.
    »Nicht«, sagte die Mutter noch einmal.
    Langsam hob sie das Gesicht zur Decke und holte Atem.
    »Nicht!«
    Der Schrei füllte den Raum so plötzlich, dass der Vater einen Schritt zurücktrat. Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, eine dramatische Geste, noch gesteigert dadurch, dass er sich zur Wand umdrehte und rhythmisch mit dem Kopf gegen die helle Tapete schlug.
    »Ich hätte besser aufpassen müssen«, stöhnte er.
    Tock. Tock.
    »Es ist meine Schuld. Alles ist meine Schuld. Aufpassen. Immer aufpassen.«
    Tock. Tock. Tock.
    »Nicht«, schrie die Mutter noch einmal.
    Der Mann drehte sich zu ihr um.
    Speichel tropfte von seinen Lippen. Blut strömte aus dem einen Nasenloch, aber das schien er nicht zu bemerken. Er ließ die Arme sinken. Er schien in dem hellgrauen Sommeranzug zu schrumpfen, er schien zu welken, wie er da stand und das Blut auf seinen roten Schlips laufen und von ihm aufsaugen ließ.
    Die Mutter senkte den Kopf über das zerschundene Gesicht ihres Sohnes und versuchte, seinen linken Arm an seinen Körper zu ziehen. Das ging nicht. Der Arm war gebrochen, am Ellbogen.
    Ein Turnschuh lag auf dem Boden.
    Der andere hing noch immer am Fuß des Jungen, wippte über den Zehen. Der Schuh war blau und schmutzig und konnte jeden Moment herunterfallen.
    Größe 37 oder so, dachte Inger Johanne Vik.
    Acht Jahre alt und große Füße. Ferse und Spitze der Socke waren verschlissen.
    »Nicht«, murmelte die Mutter wieder und wieder.
    »Was ist passiert?«, hätte Inger Johanne gern gefragt, als sie in der Türöffnung stand und zu begreifen versuchte, was sie vor sich sah.
    Ihre Stimme versagte.
    Sie spürte ein schwaches Vibrieren unter ihren Füßen. Einen Stoß, wie durch ein fernes Erdbeben. Nur für einen Augenblick, dann war es wieder ruhig.
    Nicht einmal die Mutter war mehr zu hören.
    »Was ist passiert?«, konnte Inger Johanne endlich hervorbringen.
    »Ich habe nicht aufgepasst«, sagte der Vater und hob eine schlaffe Hand zur Trittleiter, die mitten in dem großen Wohnzimmer stand.
    »Du hast nicht aufgepasst«, wiederholte die Mutter mechanisch in die blutdurchtränkten Haare des Jungen.
    »Seid ihr sicher, dass er ...«
    Inger Johanne versuchte, einen Schritt auf das Sofa zu zu machen.
    »Nicht anfassen«, schrie die Mutter verzweifelt. »Fass mein Kind nicht an!«
    »Dann glaube ich ...«, begann Inger Johanne.
    Sie hatte hier nichts zu glauben. Nichts zu glauben. Nur zu sehen: die Trittleiter unter der leeren Decke. Keine Lampe dort oben. Kein Haken. Nichts, was zurechtgerückt oder repariert werden müsste, eine hohe Trittleiter, die völlig fehl am Platze war in einem großen und aufgeräumten, eleganten Wohnzimmer, wo auf der anderen Seite der Esstisch festlich gedeckt war. Überall Blumen. Wiesenblumen und Gartenrosen in identischen Glasvasen und kleine feste Gestecke zwischen den Gedecken auf dem Tisch. Hinter der Fensterwand hing die Wolkendecke tief und einförmig. Von unten, mitten aus der Innenstadt, konnte Inger Johanne dennoch eine Rauchsäule aufsteigen sehen, dunkleres Grau vor dem dahinter liegenden Fjord.
    Ein festlich geschmücktes Wohnzimmer.
    Eine blaue Taschenlampe, wie sie jetzt sah, neben dem einen Bein der Trittleiter, eine dunkelblaue große Taschenlampe mit einem Bild von Lightning McQueen. Ein Bund alter Farbstifte, verschlissene und verschmutzte Wachsmalkreide auf einem Stapel.
    Ein toter Junge.
    Die Taschenlampe brannte.
    Ohne so ganz zu wissen, warum, warf Inger Johanne einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Die zeigte 15.28 Uhr, es war Freitag, der 22. Juli 2011.
    »Ich muss die Polizei anrufen«, sagte sie leise.
    »Die Polizei«, flüsterte die Frau heiser. »Was kann die Polizei denn für meinen Jungen tun?«
    »Nur der Ordnung halber«, murmelte Inger Johanne hilflos. »Ich halte es für das Beste.«
    Durch die offene Balkontür hörten sie in der Ferne Sirenen.
    Viele Sirenen. Sie waren überall, wie es schien.
    Es war ihr vierter Versuch. Inger Johanne konnte nicht begreifen, warum der Notruf an einem friedlichen Freitagnachmittag
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