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Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)

Titel: Schattenkind: Kriminalroman (Yngvar Stubø-Reihe) (German Edition)
Autoren: Anne Holt
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mitten in der Ferienzeit so unterbesetzt war.
    »Notruf der Polizei. Worum geht es?«
    Endlich.
    »Hallo. Inger Johanne Vik ist mein Name.«
    Ein kurzes Zögern.
    »Worum geht es?«, fragte die Frau am anderen Ende der Leitung leicht gereizt.
    »Ein Todesfall. Ein achtjähriger Junge, der ...«
    »Im Regierungsviertel? Wo?« Die Frau am anderen Ende der Leitung wirkte gehetzt. »Sehen Sie Rettungsmannschaften in Ihrer Nähe?«, rief sie.
    »Nein. Im Regierungsviertel? Ich bin in Grefsen. Bei jemandem ... ich bin bei Freunden, die ...«
    »In Grefsen?«
    »Ja.«
    »Wo?«
    »Sie wohnen im Glads vei.«
    »Professor Dahls vei?«
    »Nein, der liegt doch gar nicht in Grefsen.«
    Inger Johanne war zum Telefonieren in die große Diele gegangen. Jetzt bereute sie das. Die Eltern dürften mit dem Kind nicht allein sein. Dürften überhaupt nicht allein sein. Langsam, als ob sie etwas Verbotenes täte, schlich sie die Treppe zum Wohnzimmer hoch und senkte die Stimme.
    »Ich bin im Glads vei. G-L-A-D. Ein Kind ist ... hier ist ein totes Kind. Ein Unfall, wie es aussieht, aber ...«
    Die Verbindung riss ab.
    »Hallo?«, fragte Inger Johanne.
    Keine Antwort.
    An den folgenden Tagen fragte Inger Johanne sich immer wieder, wie sie es dort überhaupt ausgehalten hatte. Mehrere Male hatte sie das Ehepaar mit dem Kind im Wohnzimmer allein lassen müssen. Die Übelkeit, die sie plötzlich überkommen hatte, hatte sie immer wieder ins Gästebad getrieben, das von der Diele abging. Beim ersten Mal hatte sie zwei Finger dahin stecken müssen, wo die Zunge rau und hart ist. Danach kamen bittere Galle und die Reste eines eiligen Mittagessens hoch, wenn sie sich über die Kloschüssel beugte. Den bitteren Nachgeschmack konnte sie unmöglich hinunterspülen, und im Bad duftete es nicht mehr nach Jasmin.
    Der Mann und die Frau, die soeben ihr einziges Kind verloren hatten, saßen nebeneinander auf dem Sofa. Der Junge lag noch immer auf dem Schoß der Frau. Der Vater durfte seiner Frau den Arm um die Schulter legen, aber jedes Mal, wenn er die freie Hand hob, um den Jungen zu berühren, schrie die Mutter wieder: »Nicht!«
    Auf Inger Johanne achteten sie überhaupt nicht. Sie sprachen nicht mit ihr und beantworteten ihre Fragen nicht mehr. Als sie vom ersten Besuch auf der Toilette zurückkam, hatte der Mann aufgeräumt. Die Trittleiter war verschwunden. Das Blut auf dem Boden war weggewischt. Die Taschenlampe mit dem Bild von Lightning McQueen war nirgendwo zu sehen. Die Farbstifte auch nicht. Inger Johanne hätte weinen mögen, als sie die beiden noch einmal und diesmal eindringlicher daran erinnerte, dass alles unberührt bleiben müsse, bis die Polizei eintraf. Der Mann gab keine Antwort. Sah sie nicht an. Saß nur steif neben seiner Frau und starrte auf den Jungen.
    Es war ohnehin zu spät.
    Das Wohnzimmer war ordentlich und sauber, als ob es in wenigen Stunden fröhliche Gäste empfangen würde.
    Wenn da nur nicht das tote Kind gewesen wäre.
    »Nicht«, murmelte die Mutter fast unhörbar.
    Es war zehn nach vier, und Inger Johanne hatte bei der Polizei noch immer niemanden erreicht.
    »Yngvar«, murmelte sie und wählte seine Nummer.
    Nach sechs Klingeltönen wurde sie auf die Mailbox umgeleitet.
    »Ruf an«, flüsterte sie. »Du musst mich anrufen. Sofort. Sofort!«
    Sie gab sich alle Mühe, sich an ihre Festnetznummer zu erinnern. Der Festanschluss wurde kaum noch benutzt. Endlich fanden ihre Finger die richtigen Ziffern.
    Nach zehn vergeblichen Klingeltönen legte sie auf.
    Plötzlich schrillte das iPhone im Regal über dem Kamin. Die beiden auf dem Sofa zeigten keinerlei Reaktion.
    »Ist das deins?«, fragte Inger Johanne und versuchte, den Blick der Frau einzufangen.
    »Nicht«, murmelte die Mutter in die Haare des Jungen.
    »Ellen«, sagte Inger Johanne, »kann ich da rangehen?«
    Ohne die Antwort, die ja doch nie kommen würde, abzuwarten, griff sie nach dem iPhone und berührte das Display mit dem Daumen.
    »Hallo?«
    »Hallo, Ellen.«
    Eine Frauenstimme redete atemlos drauflos.
    »Hier ist Marianne. Ich wollte nur fragen, ob es nicht besser wäre, das Fest abzusagen, jetzt, wo ...«
    »Hier ist nicht Ellen. Hier ist Inger Johanne.«
    »Inger Johanne? Hab ich die falsche ... ich dachte, wir sollten um sieben kommen.«
    »Ja, schon. Ich bin hier, um ... ich wollte ein bisschen helfen, und dann ...«
    »Aber jetzt, wo diese schreckliche Sache passiert ist, dachte ich ...«
    Inger Johanne drückte sich Daumen und
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