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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Autoren: Christoph Hardebusch
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erzählte sie, was geschehen war, berichtete vom Wetterleuchten über der Klippe, von den tanzenden Schatten im Unterholz, von den Schreien, die sie umtost hatten, und schließlich von der Dunkelheit, die ihr nachgejagt war, bereit, sie zu verschlingen.
    »Es klingt vielleicht verrückt«, sagte sie leise. »Aber ich habe dieselbe Kälte gefühlt wie Berrus, als ich in die Schatten gesehen habe. Und es war, als … als würde etwas darin meinen Blick erwidern.«
    Es wurde so still, dass Rima das Flüstern der Blätter über ihr hören konnte. Sie bemerkte die Anspannung, die Neugier, die leise Furcht in den Augen der anderen, und als Arok die Brauen hob und sie mit seltsamem Staunen betrachtete wie ein Kind, das kurz davor war, durch eine verbotene Zaubertür zu treten, hatte sie erstmals seit dem Tod ihres Vaters das Gefühl, in ihrem Inneren von den Wesen verstanden zu werden, mit denen sie zusammenlebte. Doch der Moment währte nur kurz.
    Arok schüttelte kaum merklich den Kopf, und diese Geste genügte, um den Zauber zerbrechen zu lassen. Beinahe erleichtert stießen zahlreiche Zuhörer die Luft aus. »Schatten«, murmelte er düster. »Kälte und Flügelschlagen. Ich habe noch nie gehört, dass eines dieser Dinge eine ganze Schafherde dahingerafft hätte, schon gar nicht auf die Art, wie es letzte Nacht passiert ist.«
    Einige der Ältesten nickten zustimmend. »Berrus hat seine gesamte Herde verloren«, warf einer von ihnen ein. »Da kann man schon mal durcheinander sein, das werden sich alle hier vorstellen können. Und Rima …«
    Er sprach nicht weiter, aber jeder auf dem Platz wusste, was er sagen wollte. Rima konnte man nicht ernst nehmen. Mit den blonden Haaren und den tiefbraunen Augen sah sie aus wie ihre Mutter, doch sie geriet nach ihrem Vater, dem verrückten Abenteurer, der nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als durch die Weltgeschichte zu reisen, gegen Ungeheuer zu kämpfen und sich Geschichten auszudenken.
    »Es war stockfinster vergangene Nacht«, warf ein Ältester ein und nickte verständnisvoll in Rimas Richtung. »Ich habe die Hand vor Augen nicht sehen können, und wenn doch, war alles verzerrt durch dieses vermaledeite Gewittertreiben. Kein Wunder, dass die Wahrnehmung da getrübt war und man nicht mehr wusste, was man gesehen hat und was nicht.«
    Rima verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich weiß, was ich gesehen habe«, erwiderte sie, doch niemand antwortete ihr.
    »Wie dem auch sei«, meinte Arok stattdessen seufzend und ließ den Blick durch die Runde schweifen. »Wir haben keinerlei neue Anhaltspunkte zu den Vorkommnissen gewinnen können, die noch immer mehr als rätselhaft sind.«
    »So rätselhaft auch wieder nicht«, warf der Älteste zu seiner Rechten ein. Sein Name war Ignyon, Rima kannte ihn aus der Schule, wo er Natürliche Wissenschaften unterrichtete. Sie seufzte unmerklich, als er einen kleinen Kasten auf den Tisch stellte. Oft genug hatte sie solche Dinger während des Unterrichts gesehen. »Das Gewitter letzte Nacht war ungewöhnlich heftig, das wissen wir alle. Ihr habt die Blitze gesehen, die in kreischenden Farben den Himmel zerrissen haben. Könnt ihr euch vorstellen, was passiert, wenn ein Blitz mit dieser Kraft eine Schafherde trifft? Das Prinzip ist ganz einfach …«
    Rima verdrehte die Augen, als er mithilfe einiger Utensilien aus dem Kasten ein Experiment aufbaute, und blendete seine Stimme aus. Sie wusste, dass er seine Ausführungen belegen konnte, und sie wusste auch, dass seine Argumente überzeugend genug sein würden, dass er unter anderen Umständen selbst sie für sich gewinnen könnte. Wie alle anderen fuhr sie zusammen, als ein greller Blitz den Versuchsaufbau erschütterte. Sie hörte die Halblinge ringsum lachen und hätte einen Moment lang am liebsten in das Gelächter mit eingestimmt. Aber sie hatte die Kälte gespürt. Sie hatte das Grollen im Boden des Waldes gehört, und sie hatte den Blick der Dunkelheit auf ihrer Haut brennen gefühlt. All das erklärte sich nicht durch einen verfluchten Blitzeinschlag. Die Halblinge jedoch hingen wie gebannt an den Lippen des Ältesten, und je komplizierter seine Ausführungen wurden, desto hingegebener lauschten sie ihm, bis sich eine dumpfe Erleichterung über ihre Züge legte und die Anspannung verflog. Selbst Berrus nickte zustimmend vor sich hin.
    »Das klingt handfester als alles, was ich heute sonst so gehört habe«, bemerkte Arok, nachdem Ignyon geendet hatte. »Gehen wir also davon aus, dass
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