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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Autoren: Christoph Hardebusch
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ins Finstermoor erwischt worden war. Sie erinnerte sich noch gut an die strengen Mienen der Ältesten, doch heute war sie aus einem anderen Grund hier. Sie war als Zeugin geladen worden – als Zeugin von etwas, auf das sich niemand einen Reim machen konnte.
    Sie schaute in die Runde. Wie immer bei derartigen Veranstaltungen war beinahe das gesamte Dorf auf den Marktplatz gekommen, doch während die Halblinge für gewöhnlich wie bei einem Picknick um den alten Baum herumsaßen, als wären die Versammlungen nichts weiter als Frühlingsfeste, auf denen man ausgiebig essen und trinken konnte und die den Alltag mit sorglosen Geschichten versüßten, sah Rima nun ihre eigene Anspannung auf den Gesichtern der anderen widergespiegelt. Trotzdem klang das Gemurmel, das über den Platz flog, warm und beinahe alltäglich, als wären die Halblinge unfähig, ihren Stimmen eine Klangfarbe wie Furcht zu verleihen. Einzig ihr Onkel saß schweigsam auf seinem Platz und schaute bekümmert zu ihr herüber. Sie hatte ihm nicht viel von dem erzählt, was im Wald geschehen war, aber wie so oft hatte ihm ein Blick genügt, um zu wissen, dass in ihrem Innersten Aufruhr herrschte. Er hatte sie den ganzen Tag nicht aus den Augen gelassen, hatte darauf bestanden, dass sie sich ausruhte und sich die Bettdecke bis zur Nasenspitze hochzog, obwohl sie nicht einmal krank war, und als die Einladung zur Ratsversammlung gekommen war, hatte er sie zuerst nicht gehen lassen wollen. Doch sie hatte keine Wahl gehabt. Zu deutlich sah sie die Weide vor sich, auf der noch immer einzelne Kadaver in all dem Blut lagen, weil es gar nicht so einfach war, so viele tote Schafe auf einmal zu beseitigen. Und zu abstrus waren die Erklärungsversuche, die durch das Dorf geisterten, angefangen bei Wolfsangriffen über unerwartete Aggressionen innerhalb der Herde bis hin zu tollwütigen Eichhörnchen mit plötzlichem Appetit auf Schafsfleisch. Rima holte tief Luft, während sie den fast sorglosen Stimmen der Halblinge lauschte. Sie konnte es ihnen nicht verdenken. Niemand außer ihr selbst hatte in die Finsternis des Waldes geblickt. Niemand sonst war ihr so nah gekommen.
    Ein widerwilliges Schnauben ließ sie aufschauen. Arok bahnte sich den Weg durch die Menge und setzte sich mit lautem Seufzen auf seinen Platz. Sein Gesicht hatte den Ausdruck einer unzufriedenen Pampelmuse angenommen. Eigentlich war er ein fröhlicher Halbling mit einer Leidenschaft für Wein und gutes Essen, doch er verabscheute drei Dinge: unvorhergesehene Ereignisse, Versammlungen unter freiem Himmel bei Regen – zumindest, wenn er dabei nüchtern bleiben musste – und die Kochkünste seiner Frau. Zumindest der erste Punkt war bereits erfüllt, und wenn Rima die Wolken betrachtete, die schwer und unheilvoll so dicht über den Dächern hingen, als wollten sie darauf niederstürzen, dann rechnete sie fest damit, dass auch der zweite Punkt schon bald zutreffen würde. Sollte Arok dann noch genötigt werden, pünktlich zum Abendessen zu Hause zu sein, würde es ein Donnerwetter geben, daran bestand kein Zweifel.
    »So«, begann er, wie er jede Versammlung einleitete, und blinzelte mit finsterer Miene in die Runde. »Ihr wisst, wieso wir hier sind. Irgendetwas ist letzte Nacht passiert, Berrus hat all seine Schafe verloren, und das auf wahrhaft grausige Art und Weise. Es gibt wohl keinen hier, der die Tiere nicht schreien hörte. Einen solchen Vorfall gab es in der Geschichte unseres Dorfes noch nie.«
    »Wäre ja auch noch schöner«, stellte Berrus fest und fuhr sich durchs Haar, woraufhin es in alle Himmelsrichtungen abstand. »Siebzehn Jahre bin ich nun Schäfer wie mein Vater vor mir und mein Großvater vor ihm und …« Er stockte, als sich Aroks Augenbrauen zu einer einzigen verbanden, und zuckte die Achseln. »Jedenfalls will ich wissen, was da passiert ist«, murmelte er kleinlaut.
    »Deswegen sind wir hier«, erwiderte Arok, und die Ältesten nickten bedeutungsvoll. »Du hast deine Tiere kurz nach dem Verstummen der Schreie gefunden. Am besten erzählst du uns, wie sich das Ganze zugetragen hat.«
    Berrus nickte. »Ich bin wie immer aus der Schenke gekommen, so gegen … na, es war jedenfalls ziemlich dunkel. Und dann hörte ich auf einmal das Geschrei. Ich wusste sofort, dass es die Schafe waren, aber ich habe sie noch nie auf diese Weise schreien gehört, selbst bei einer Schlachtung nicht. Ich habe die Beine in die Hand genommen und bin gerannt, was das Zeug hielt, aber als ich die
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