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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Autoren: Christoph Hardebusch
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innehielt und lauschte, trieb der Wind die Schreie durch die Luft wie aufgewirbelte Blätter, sodass sie von überall zugleich zu kommen schienen. Sofort schlug ihr Herz schneller. Bilder flammten in ihr auf: Sie sah ihren Onkel vor sich, ihre Cousinen und ihre Tante, sie sah die Kinder des Dorfes, wie sie angsterfüllt durch die Gassen liefen. Rima begann zu rennen. Selten zuvor hatte sie Bilder im Kopf gehabt, die ihr so unwirklich erschienen waren wie diese, aber sie hörte die Schreie durch die Nacht hallen, und wenngleich sie nicht verstehen konnte, ob sie von Worten begleitet wurden, nahm sie doch die Hilflosigkeit wahr, die in jedem Ton mitschwang – die dunkle, verzweifelte Stimme der Todesfurcht.
    Mit aller Macht kämpfte sie die Panik nieder, die ihr die Schreie zu Geisterstimmen verzerrte. Sie sah graue Gestalten mit zerfransten Leibern über sich hinwegfliegen, deren Finger mit jedem kühlen Windstoß über ihre Wangen strichen, und sie schaffte es nicht, die Gesichter ihrer Familie aus ihren Gedanken zu vertreiben. Ihre Cousinen waren noch klein, drei und fünf Jahre alt, braungelockt wie ihr Onkel, und sie besaßen die blauen Augen ihrer Tante. Wenn sie lachten, lief Rima ein Schauer über den Rücken, so hell und warm klang dieser Ton. Sie kamen zu ihr, wenn sie schlecht geträumt hatten, sie lachten und weinten mit ihr, sie liebten sie wie eine Schwester. Rima spürte die Schreie wie Messerschnitte in ihrem Fleisch und schrak umso heftiger zusammen, als plötzlich jedes Geräusch verstummte.
    Die Stille war so vollkommen, dass sie nur noch den eigenen Atem hörte – und das gierige Wittern im Dickicht direkt vor ihr. Irgendetwas hockte dort in der Dunkelheit und sog ihren Duft ein, etwas Großes, das Hunger hatte. Rima schien es, als zöge eine unsichtbare Schlinge sie näher zu den Schatten; fast meinte sie, eine tastende Klaue an ihrer Kehle zu spüren. Der Boden erbebte unter einem tiefen Grollen. Dann brach etwas durch die Bäume und hielt geradewegs auf Rima zu.
    Atemlos wirbelte sie herum und rannte los. Sie sah kaum, wohin sie lief, sie war so schnell, dass die Zweige der Bäume peitschengleich über ihre Wangen schlugen, aber der Leib ihres Verfolgers preschte gewaltsam durch das Unterholz und kam immer näher. Geifernd sog er die Luft ein, glühend strich sein Atem über ihren Nacken. Etwas Höhnisches lag darin, etwas, das Rima wie ein Schlag traf. Gleichzeitig wurde der Boden unter ihr weich. Sie fühlte noch den Schreck, als sie erkannte, dass sie ins Moor gelaufen war – gehetzt von einer Bestie, die sie nicht sehen konnte. Dann verlor sie das Gleichgewicht und schlug auf dem Boden auf.
    Für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Wie von Ferne hörte sie ein Zischen über sich hinweggleiten, dicht gefolgt vom dumpfen Krachen schwerer Felsen. Sie atmete flach, irgendetwas in ihr flüsterte ihr zu, dass sie durch ihren Sturz entkommen sein könnte, dass ihr Verfolger über sie hinweggesprungen war, ohne sie zu bemerken. Doch gleich darauf spürte sie Kälte, die von hinten auf sie zukroch und lautlos ihre Beine emporwanderte. Rima schauderte, so eisig war die Berührung. Sie drehte sich auf den Rücken. Verflucht, sie wollte sehen, womit sie es zu tun hatte, wenn sie ihm schon zu Füßen liegen musste!
    Rima kniff die Augen zusammen, aber alles, was sie sah, war Dunkelheit. Sie wollte sich schon abwenden, als eine Bewegung durch die Schatten ging, ein kaum merkliches Flackern, und doch fühlte sie instinktiv, dass sie noch nie zuvor in eine tiefere Finsternis als diese geblickt hatte. Im selben Moment erreichte die Kälte ihren Brustkorb und erschwerte ihr das Atmen. Keuchend schaute sie zu der Dunkelheit auf, die sich über ihr aufbäumte, und sie spürte einen Blick auf sich, ohne selbst auch nur das Geringste erkennen zu können.
    Dieser Blick durchdrang jede Finsternis und jede Kälte, er glitt in sie hinein wie ein Schwerthieb, bohrte sich durch Fleisch und Sehnen, brach in ihre Gedanken ein, in ihre Erinnerungen, in ihr innerstes Wesen. Jäh sog sie die Luft ein, doch auch sie war eiskalt geworden, und gerade in dem Moment, als die Panik sie überkam, schoben sich die Schatten vor ihr auseinander. Kurz schien es ihr, als sähe sie das Schlagen eines mächtigen Schwingenpaares in der Dunkelheit, und ein Name formte sich tief in ihrem Inneren, ein Name, der vielleicht vom Blick dieser Finsternis erst in sie gepflanzt worden war und den sie nicht begreifen konnte. Verzweifelt
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