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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
Autoren: Christoph Hardebusch
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schüttelte er stets besorgt und verständnislos den Kopf. Kein anständiger Halbling hegte derartige Gedanken, und ein Mädchen schon gar nicht. Denn davon abgesehen, dass ihr Volk trotz einiger Ausnahmen nie eine Liebe für derartige Eskapaden entwickelt hatte, waren die Helden in den alten Geschichten immer Männer gewesen. Die Zeit der Abenteuer ist vorbei , hörte sie ihren Onkel sagen, und sie konnte nicht umhin, ihm zuzustimmen. Heutzutage waren das Aufregendste im Leben eines Halblings die bevorstehende Ernte, die Festlichkeiten zu allen möglichen Anlässen und die Besucher, die hin und wieder durch die Länder des Kleinen Volkes reisten und allerhand zu berichten wussten. Auch in dieser Nacht hatte sich ein Reisender angekündigt, ein Mensch aus dem Süden, der auf seinem Weg in die Hauptstadt am Rand des Nachtwaldes rasten wollte.
    Als sich der Himmel zu dunklem Blau verfärbte, rutschte Rima vom Findling hinunter. Die Sonne würde bald aufgehen. Wenn sie noch länger hier herumsäße, würde sie in den nächsten Tagen nicht aus der Backstube kommen, so viel war sicher. Außerdem war sie neugierig auf den Fremden, der bald eintreffen würde und gewiss eine Menge aus der Welt zu erzählen hätte – jener Welt, die jenseits von Zimtkringeln und Mohnschnecken lag und wenig mit dem behaglichen Leben im Kleinen Tal zu tun hatte.
    Der Regen hatte etwas nachgelassen, doch als Rima den Klippenweg hinunterlief und den Nachtwald erreichte, spürte sie die Tropfen wie winzige Nadelstiche auf der Haut. Der Sturm ließ die Blätter der Bäume rauschen, als hätten sich tausend Geister in ihnen verfangen. Rima schlang die Arme um den Körper, als sie den schmalen Pfad entlangging. Für gewöhnlich streunte sie gern in diesem Wald herum, kletterte auf die uralten Bäume und lauschte den Stimmen der Tiere, die in seinem Dickicht lebten. Vor einiger Zeit hatte sie sogar eine Frostkatze gesehen – beinahe so groß wie sie selbst war das Tier gewesen, und seine Augen hatten geleuchtet, als würde es im Inneren in Flammen stehen. Rima wusste, dass Frostkatzen gefährlich waren; oft genug hatte sie die Bilder zerrissener Halblingskörper in den Büchern ihres Onkels gesehen, Bilder aus Zeiten, in denen die Frostkatzen noch zahlreich gewesen waren. Und doch hatte sie angesichts dieser Kreatur keine Furcht empfunden. Regungslos hatten sie sich gegenseitig gemustert, dann waren sie ihrer Wege gezogen, als hätten sie ohne jedes Wort einen heimlichen Pakt geschlossen. Nein, Rima hatte sich noch nie gefürchtet zwischen den Bäumen des Nachtwaldes … doch nun, da sich der Himmel unheilschwanger über den Wipfeln abzeichnete und das Wetterleuchten flackernde Schattenspiele auf den Boden malte, setzte sich Anspannung in ihrem Nacken fest. Sie hörte noch immer das dumpfe Grollen, das wie das Stöhnen gewaltiger Gebirge klang, und sie sah die Schatten im Unterholz auflodern wie schwarze Flammen. Nach wie vor pochte eine wilde und kindliche Neugier in ihren Schläfen, aber sie fühlte auch die Kälte, die plötzlich über den Waldboden auf sie zustrich, und zog sich den Mantel enger um den Leib. Verflucht, sie war doch kein kleines Kind mehr. Auf dem Hinweg war sie auch durch diesen Wald gegangen, warum verspürte sie auf einmal so etwas wie … Angst? Sie unterbrach ihren Gedanken, als die Schatten zwischen den Bäumen zu wispern begannen. Ein kaum hörbares, raunendes Flüstern war es, das die Luft durchdrang. Rima beschleunigte die Schritte, doch ihr Blick hing an den Schatten, die wie lebendige Wesen aufflammten und sich zu Gestalten verformten, zu Chimären mit mehreren Köpfen, zu klauenbewehrten Hexenmeistern und zu Menschen, deren Körper wie die Glieder eines Scherenschnittes auseinanderrissen und zu tanzen begannen. Rima starrte auf die lockende Hand einer hochgewachsenen Frau in wallenden Gewändern, und die Zeilen alter Kindergeschichten schossen ihr durch den Kopf. Weiche vom Wege nicht , raunte es um sie herum, ehe sie den Blick gewaltsam von der Gestalt losriss. Entschlossen grub sie die Fingernägel in ihre Handflächen und fixierte den Weg unmittelbar vor ihr. Sie musste sich zusammenreißen. Schlimm genug, dass sie durch ihre ausufernde Fantasie Dinge sah, die es gar nicht gab, doch sie durfte nicht auch noch wegen ihrer eigenen Hirngespinste in Panik verfallen. Sie würde …
    Die Schreie setzten so plötzlich ein, dass sie zusammenfuhr. Sie klangen wie Kinderstimmen, Panik lag in jedem Ton, doch als Rima
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