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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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was sein Herz blind gemacht hatte.
    »Was ist geschehen?«, fragte sie ihn.
    Der Wolf, der ein Mensch war, seufzte, und der Mensch, der ein Wolf war, sagte: »Es ist vorbei.«
    Sie befanden sich noch immer in der Turmstube. Das Eis an den Wänden war nicht mehr da. Die Maikönigin war fort. Leander Nachtsheim, sein kleiner Bruder und Jonathan Andersen, auch sie waren nicht mehr hier.
    »Wo sind sie denn alle hin?«, fragte Vesper. Sie fühlte sich schwach, allein und leer.
    »Der wundersame Spielmann ist mit der Maikönigin verreist. Sie fliegen jetzt ins Eismeer, um den Erlkönig zu erwecken.«
    »Und Leander?« Allein seinen Namen auszusprechen ließ sie sich vor Schmerzen krümmen.
    »Der Sandmann hat ihn nach unten gebracht.«
    Hoffnungsvoll blickte Vesper auf, doch der große Menschenwolf schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist tot.«
    Sie spürte, wie die Tränen wiederkehrten.
    »Du hast dein Leben gegeben, um sie zu befreien. Wahre Liebe lebt auch im Verlust.«
    Sie nickte benommen.
    »Warum bist du noch hier?«, fragte sie den Wolf, der manchmal ein Mensch war.
    »Ich bin dir eine Geschichte schuldig«, sagte er.

    Sie stand auf, ging zum Fenster. Draußen war noch immer Winter. Unter ihr wogten die Wipfel der Tannen im Winterwind. Der Wald lebte, und in der Ferne hörte sie das Rudel durchs Unterholz preschen. Der Mond stand hell am Himmel und tauchte die Wolken in sanftes Licht.
    »Du hast meine Eltern getötet.« Sie erinnerte sich an alles. Auch an Ida und Greta.
    »Wir alle haben Dinge getan, derer wir uns schämen müssen«, sagte der Wolf und trat neben sie ans Fenster. »Doch das war nicht immer so. Es gab eine Zeit, da war alles anders.«
    »Erzähl mir die Geschichte«, bat sie ihn. Ihr Herz war so leer, sie konnte eine Geschichte gebrauchen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie noch am Leben war.
    »Es war einmal«, so begann auch diese Geschichte. Der große böse Wolf sah nachdenklich in die Nacht hinaus. »Es war einmal, und gar nicht so weit von hier entfernt, wenn man Zeit nicht unbedingt in Jahren misst.«
    Ja, so fing es an, so war es passiert.
    Es waren einmal sieben Geschwister, sechs Brüder und eine Schwester. Sie lebten in einem kleinen Städtchen namens Hanau. Jacob war der Erstgeborene, ihm folgten die Zwillinge Wilhelm und Giselher und drei weitere Brüder und nur eine Schwester. Sie waren einander alle sehr ähnlich, und sie liebten einander, wie Geschwister es tun sollten. Sie wuchsen in einem bürgerlichen Hause auf, und das Leben, das sie führten, war ein gutes Leben. Doch dann, eines Tages im tiefen Winter, da verwandelte sich einer der Zwillinge unversehens in einen Wolf. Der junge Giselher wusste nicht,
was mit ihm geschah, aber er fand sich auf allen vieren wieder, wie er durch den Wald lief und Wild jagte.
    Er berichtete seinem Bruder Wilhelm von dem Erlebnis, der seinerseits Jacob und die anderen einweihte. Keiner von ihnen konnte sich erklären, warum sich einer aus ihrer Mitte in einen Wolf zu verwandeln vermochte, denn Wilhelm, der andere Zwilling, war ein ganz normales Kind.
    Der Wolf blickte weit in die Ferne, ganz weit.
    »Doch dann, eines Tages, geschah ein Unglück.«
    Giselher war gerade einmal zehn Jahre alt, als sein Vater ihn im Wald überraschte, wie er zwei Burschen, die auf Wanderschaft waren, bedrohte. Der Vater, der an diesem unglückseligen Tag von den ältesten Söhnen Jacob und Wilhelm begleitet wurde, griff den Wolfsjungen an, weil er den Burschen zu helfen gedachte. Da tötete Giselher, in dem der Wolf noch ungezähmt und wild war, den eigenen Vater.
    Dann flüchtete er in den tiefen Wald.
    »Von da an war der Wolfsjunge auf der Flucht.«
    Seine beiden Brüder, die Zeugen des Unglücks geworden waren, jagten ihn und hassten alle, die so waren wie er. Als sie älter wurden, verschrieben sie sich ganz der Aufgabe, jene Wesen, die manche als Mythen bezeichneten, zu finden und aus der Gemeinschaft der Menschen zu verbannen.
    »Hass entbrannte allerorts.«
    Und Giselher, der sein Zuhause verloren hatte, weil er tat, was seiner Natur entsprach, begann seinerseits die Menschen zu hassen. Er lief durch die tiefen Wälder und verbarg sich in den Mooren, fand seinesgleichen und lebte das Leben eines Wolfs.

    Hier endete die Geschichte. »So hat es damals begonnen.« Den Rest kannte Vesper jetzt.
    Der Wolf schwieg, denn auch das können Wölfe.
    Vesper starrte ihn an. Die Welt, dachte sie, ist kompliziert und doch so klar und einfach. Unglück gebiert
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