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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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Tage wie dieser, im Regen verweht
    V esper Gold, in deren grün schimmernden Augen sich unverhohlener Trotz zeigte, saß nahezu regungslos auf dem Stuhl im Vorzimmer der Direktorin und wartete darauf, dass ihre Mutter eintraf. Sie trug die wilde Entschlossenheit, sich nicht unterkriegen zu lassen, so eng umschlungen wie den petrolfarbenen Schal, den ihre Finger langsam entknoteten. Tage wie dieser, an denen alles schieflief, waren eindeutig dazu bestimmt, dass man seine Krallen ausfuhr.
    »Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«, fragte die Sekretärin, schüttelte den Kopf und hantierte lärmend am Kopierer herum. Sie war rundlich, zu laut und trug eine modische Brille in Neonorange, dazu kurzgeschnittene wasserstoffblondierte Haare, die wie verdorrter Rasen im Sommer aussahen.
    »Nichts«, erwiderte Vesper mürrisch, »ich habe mir überhaupt gar nichts dabei gedacht.« Diese leidige Frage würde sie gleich noch mehrere Male zu hören bekommen. Warum
stellten Erwachsene diese Art von Fragen überhaupt, wenn sie die Antwort ohnehin wussten. Natürlich hatte sie sich etwas dabei gedacht; sie war schließlich keines dieser hirnlosen Püppchen, die den Lehrern schöne Augen machten, um an gute Noten zu kommen.
    »Auf was für dumme Ideen die Schüler heutzutage nur kommen«, murmelte die Sekretärin vor sich hin, gerade laut genug, dass Vesper sie verstehen konnte. »Ärztliche Atteste einfach so zu fälschen.« Übertrieben fassungslos schüttelte sie den Kopf, murmelte: »Und das mehrmals«, machte laut und vernehmlich »ts, ts, ts« und sah fast persönlich beleidigt aus.
    Vesper seufzte.
    Das Leben, das manchmal zu einem Sturm anwachsen konnte, hatte sie hier stranden lassen, könnte man sagen. Sie registrierte die abwertenden Blicke der Sekretärin und fragte sich, warum jemand, der Jugendliche so offensichtlich hasste, ausgerechnet an einer Schule arbeiten musste.
    »Früher, zu meiner Zeit«, dozierte Frau Wissmann, »da hatten wir noch mehr Respekt vor den Erwachsenen, ganz ehrlich.« Ein weiterer missbilligender Blick traf das Mädchen. »Mehr Respekt vor den Lehrern und …«
    »Schon klar«, grummelte Vesper entnervt und fragte sich, wann genau ihre Zeit gewesen war. Die Wissmann war jünger als Vespers Mutter, und Margo Gold hatte nie den Eindruck erweckt, als sei sie zu einer Zeit jung gewesen, in der die coolen Mädchen sich so verhalten hatten, wie die Sekretärin es sie gerade glauben machen wollte.

    »Fräulein, Sie sollten sich nicht im Ton vergreifen!«
    »Und Sie hätten die Therapie vielleicht doch nicht so schnell und vorzeitig abbrechen sollen.«
    Frau Wissmann schluckte. Jeder hier wusste doch, dass das Sekretariat wegen labiler Fachkräfte andauernd umbesetzt werden musste. Die Wissmann war schon die dritte Sekretärin, die wegen psychischer Probleme oder Überlastung oder aus einem anderen geheimnisvollen Grund erkrankte, sich in fortwährenden Kuren und Rehabilitationen befand und währenddessen bei Facebook die Welt an ihrer Partnersuche teilhaben ließ, was kaum einem Schüler mehr entging.
    »Sie …« Ein erhobener Finger nur. Die restlichen Worte blieben ihr irgendwo im Hals stecken, gut so.
    Vesper sah sie an und fragte sich, ob sie Mitleid mit dieser unfreundlichen Kuh haben sollte. Sie rief sich in Erinnerung, wie die Wissmann mit den Fünft- und Sechsklässlern umsprang, und entschied sich kurzerhand dafür, sich zufrieden zurückzulehnen.
    Sie atmete tief durch.
    Meine Güte, was machte sie hier eigentlich?
    Die Wissmann ging für einige Minuten still und sauer ihrer Arbeit nach und versprühte leise Gift in Form von verhuscht wirkenden Blicken, die Vesper sehr gut kannte. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, wie die Neuigkeit von ihrem Vergehen bei der Lehrerschaft die Runde machen würde. Die Wissmann würde schon dafür Sorge tragen. Sie war wie die dicke Spinne im Netz. Überall gab es Leute wie sie.

    »Ist die Chefin schon da?«, fragte Vesper nach einer Weile.
    »Sie hat noch ein Telefonat.«
    »Also ist sie schon da.«
    »Sie wird Sie erst empfangen, wenn Ihre Mutter da ist.«
    »Aber ich verpasse wertvollen Unterricht«, gab Vesper zu bedenken.
    Frau Wissmann bedachte sie mit einem Blick, der zum Töten bestimmt war, ganz sicher.
    Vesper hielt ihm stand. So lange, bis die Wissmann sich wieder ihren Kopien zuwandte.
    Ja, mit Blicken wie diesen kannte sie sich gut aus. Sie erinnerte sich an den kläglichen Therapeuten, den zu besuchen ihre Mutter sie erst vor Kurzem, vor dem
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