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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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Umzug nach Hamburg, gedrängt hatte, und es machte ihr auch jetzt keine Mühe, sich durch die neugierigen Augen ihres Gegenübers zu sehen. Eine unscheinbare Siebzehnjährige, das war es, was die Leute sahen, wenn sie ihr heimlich und feige Blicke zuwarfen; eine Schülerin, die eher nach einer Studentin im allerersten Semester aussah, gekleidet in Schwarz, mit Stiefeln (und mit nur einem einzigen warmen Glanzlicht: dem selbstgestrickten Schal); ein bleiches Gesicht, das hager und ein wenig kränklich wirkte und dennoch das rege Interesse der Jungs weckte; ein Körper, an dem die meisten Kleidungsstücke, die sie trug, irgendwie gedankenlos und hastig übergeworfen aussahen und unpassend groß wirkten; Augen von einem Grün, so hell, dass nicht viele Menschen ihrem trotzigen Blick standhielten. Die Haare wie widerspenstige Wolle,
hochgesteckt mit einem dunklen Stab voller chinesischer Schriftzeichen, pechschwarz wie alles an ihr.
    Sie sah nicht aus wie die typische Schülerin dieser Einrichtung. Hier, an der St.-Nikolai-Anstalt für verwöhnte neureiche Schlampen und saufende und kiffende Schlappschwänze mit unterirdischem IQ und Leistungskurs Sport - oder, benutzte man den offiziellen Namen der Schule, dem Gymnasium St. Nikolai, Eliteschule des Sports -, trugen die Schülerinnen teuere Markenklamotten, gingen alle zwei Wochen zum Friseur und zur Kosmetikerin und kommunizierten ihre Plattitüden mit den neuesten iPhones und iPads. Schülerinnen in Vespers Alter besaßen meist ein Pferd und bekamen jede Menge Taschengeld, sie kotzten, was das Zeug hielt, sobald sie etwas gegessen hatten, und bemitleideten sich ausgiebig gegenseitig, wenn sie die selbstfotografierten Bilder online analysierten, weil sie sich zu fett und hässlich vorkamen. Bei den Jungs war es kaum besser.
    Das Telefon klingelte.
    Vesper horchte auf, als die Wissmann den Anruf entgegennahm. Während sie sprach, schaute sie fortwährend in ihre Richtung, nickte, sah wichtig aus, lächelte überheblich, nickte erneut.
    »Was Lustiges?«, gestattete sich Vesper zu fragen.
    »Ihre Mutter wird in zehn Minuten hier sein«, verkündete die Sekretärin.
    Vesper nahm es zur Kenntnis.
    Ihre langen, nervösen Finger suchten in der Tasche der abgewetzten Lederjacke nach einer Zigarette. Zwischen
Krimskrams, Knöpfen, Fäden, lila Nagellack und alten Kassenzetteln fanden sie eine, die noch nicht zerbröselt war. Sie zog ihr Feuerzeug aus einer anderen Tasche, sah es kurz an, lächelte und spürte erneut die unruhige Leere, die ein so großer Teil ihres Lebens geworden war, dass sie manchmal kaum zu sagen wusste, ob es da noch etwas anderes gab.
    Gierig zündete Vesper sich die Zigarette an und inhalierte tief.
    Sie schloss dabei die Augen fest, ganz fest, spürte den Rauch ihre Kehle hinabrinnen wie Gift und musste husten. Es tat nicht gut, den Rauch und die wabernde Hitze zu spüren, aber es war immerhin ein Gefühl, und jedes Gefühl, das aus ihr hervorbrach, war besser als jenes unwillkommene Gefühl, das sie noch immer zurückzuhalten vermochte.
    »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, hörte sie die Wissmann keifen. »Sie befinden sich in einer Schule!«
    Vesper öffnete die Augen. »Da steht doch ein Aschenbecher«, sagte sie ruhig und deutete auf den Blumentopf mit dem kränklichen Gummibaum, der spätestens in zwei Wochen einem neuen Gewächs weichen würde.
    »Was …?«
    »Ich behaupte einfach, dass Sie geraucht haben. Merkt sowieso niemand den Unterschied.«
    »Wir sind eine gesunde, raucherfreie Schule«, beharrte die Sekretärin.
    »Öffnen Sie einfach das Fenster. Das tun Sie doch auch sonst immer.« Jeder wusste, dass die Wissmann heimlich
qualmte, wenn die Chefin außer Haus war. Vesper hatte keine Lust mehr, sich von all diesen scheinheiligen Gestalten hier herumschubsen zu lassen.
    »Was erlauben Sie sich!«, fauchte die Wissmann Vesper an.
    Die blies einen Rauchkringel zur Decke hinauf und lächelte. »Wenn Sie nicht leise sind, dann kommt die Chefin noch aus ihrem Zimmer.«
    »Sie wollen es heute wirklich wissen …«
    »Sieht wohl so aus.«
    Die Wissmann schnaubte, bewegte sich auf die Tür zum Zimmer der Direktorin zu.
    »Das würde ich nicht tun«, riet ihr Vesper.
    »Ach ja, und warum nicht?«
    »Weil der Blumentopf voller Kippen ist.« Sie lächelte ein äußerst nettes Lächeln. »Die können unmöglich alle von mir sein, oder?!«
    »Fräulein Gold!« Die Wissmann schnappte nach Luft. Ihr Gesicht lief rot an, und ihr Mund ging
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