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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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trotzig und irgendwie traurig zugleich.
    Dann griff sie nach dem iPod, ließ erneut Sinnerman laufen, zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu, schlug den Kragen hoch, schulterte den Rucksack, den sie seit Jahren besaß, und ging aus einem der Notausgänge hinaus in die Stadt, die kalt und voller Regen war - und somit irgendwie genau das, was sie von einem Tag wie diesem erwartete.
     
     
     
    In der Mönckebergstraße ließ sie sich einen heißen Kaffee im Pappbecher im Segafredo-Café an der Ecke neben dem Taxistand geben, danach schlenderte sie gedankenverloren an den hell erleuchteten Schaufenstern vorbei, wurde ein Teil der Menschenmassen, die wie an jedem Tag vom Bahnhof zu den Geschäften und Kaufhäusern drängten. Sie blieb stehen, als sie einen alten Straßenclown sah, der auf seinem Akkordeon Lieder von Hans Albers spielte und in den Pausen mit bunten Bällen jonglierte. Sie beobachtete die anderen Passanten dabei, wie sie den Clown ignorierten und eilig ihres Weges gingen. Schließlich ging sie zu dem Zylinder, der vor dem Clown auf dem gemusterten Straßenpflaster stand, und warf ein paar Münzen hinein. Der alte Clown entlockte seinem Instrument ein beschwingt quietschendes Geräusch und verneigte sich kurz. Dann wendete er sich den anderen Passanten zu,
von denen ihn allenfalls die Kinder beachteten, für die ein Clown an einem so trüben Tag wie diesem noch etwas Außergewöhnliches war.
    Vesper ließ sich treiben.
    Sie verdrängte alles, was mit der Schule zu tun hatte, und genoss die Stadt, die erfüllt war von einer Magie, die niemand zu sehen vermochte.
    Die Lichter der Autos spiegelten sich in den Pfützen, und das Prasseln des Regens auf dem Asphalt zauberte ungehörte Melodien in den Lärm des Verkehrs. Schritte auf dem Pflaster klapperten einen dumpfen Takt, Stimmengewirr in sich verwebt, dicht und filigran. Wütende Taxifahrer hupten, missmutig aussehende Männer in dunklen Anzügen eilten in die Mittagspause, elegante Frauen in geschäftsmäßigen Kostümen bedachten andere geschäftsmäßige Frauen in Kostümen mit boshaften Blicken, Straßenmusikanten und Bettler drückten sich gegen Häuserwände oder zwängten sich in die Ecken neben den Eingängen zu den Kaufhäusern, Touristen mit Kameras schlenderten planlos durch die Gegend.
    Vesper nippte an dem heißen Kaffee.
    Der Regen machte ihr nichts aus.
    Die Luft roch so frisch, wenn es regnete.
    Sie mochte das.
    Vom Rathaus aus nahm sie die S-Bahn bis zum Baumwall und lief dann zum Hafen hinüber.
    Dichte Wolken, schwer und grau, hingen überall, und der Himmel wurde eins mit dem kalten Wasser, das missmutig gegen die Rümpfe der Schiffe schwappte. Vesper mochte
den Hafen. Hier waren die Menschen auf der Durchreise, wie sie selbst, irgendwie. Sie stellte sich gern vor, wie es hier vor hundert Jahren oder noch früher ausgesehen hatte. Die Menschen hatten auch damals schon auf den großen Schiffen angeheuert, um sich von ihnen in die Welt hinaustragen zu lassen. Und all diejenigen, die hier lebten, hatten es entweder versäumt, beizeiten die Anker zu lichten, oder sie warteten schlichtweg auf jemanden, der dies nicht versäumt hatte - und auf den zu warten sich lohnte. Sie säumten die Ufer und träumten von fernen Ländern und Abenteuern und Orten, an denen alles anders wäre.
    Vesper seufzte.
    Sie kam oft hierher, wenn sie die Schule schwänzte. Sie ließ den Wind durch ihr Haar fahren und atmete die frische Luft, die nach Salz und hoher See roch; sie schlenderte an den Schiffen vorbei, blieb lange vor der Cap San Diego und der Rickmer Rickmers stehen und träumte in den Tag hinein.
    Nach einer Weile dann ging sie in Richtung der Landungsbrücken.
    Auch hier tummelten sich trotz des schlechten Wetters unzählige Menschen, Touristen mit Schirmen und Plastiktüten aus den vielen Souvenirläden. Sie füllten die Bars und Restaurants und Imbissstände, strömten zu den flachen Barkassen, um eine Hafenrundfahrt zu machen, studierten die Schautafeln, an denen sie sich ein Bild von der Geschichte des Hafens machen konnten. Es roch nach Fisch und dem Meer, nach Salz und einer Ferne, die jenseits des Horizonts kein Ende finden würde.

    Erst beim zweiten Hinsehen fiel Vesper der Mann auf, der sich an einem der vielen Souvenirläden herumdrückte. Er trug einen Mantel mit silbernen Knöpfen, eng geschnitten und schlicht. Vesper hatte Mäntel wie diesen in Filmen gesehen, schwarz-weißen Abenteuerstreifen, in denen es um Spionage und Krieg ging,
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