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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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Hass, und Unverständnis bringt den Tod. Es ist ein Kreis, dem kaum ein Wesen entrinnen kann.
    »Meine Brüder haben mich nie Giselher genannt«, sagte er. »Immer nur Ise .« Wehmütig lauschte er dem Heulen seiner Artgenossen dort unten in den Wäldern. »Damals, als wir noch unbeschwert spielten, wie Kinder es tun, da war das der Name, bei dem sie mich geriefen.«
    Vesper erkannte jetzt, was wirklich geschehen war. Sie sah, wie die Pfade von einst die Wege der Gegenwart beeinflussten.
    Der Wolfsjunge änderte seinen Namen, ein wenig nur, gewiss. Aus Grimm wurde Grim .
    »Ise Grim.«
    Isegrim.
    Der Wolf.
    »Deshalb also haben sich Ihre Brüder so intensiv mit den Mythen beschäftigt.«
    »So wurde der Hass geboren, so fing es an. Die Märchen begannen zu sterben und die Lügen zu gedeihen.«
    Im Grunde genommen, dachte Vesper traurig, war wirklich immer alles ganz einfach.
    »Was wird jetzt aus uns werden?«, fragte sie schließlich, nachdem sie eine ganze Weile gemeinsam geschwiegen
hatten. Sie war sich sicher, dass die bitteren Tränen in ihrem Gesicht noch lange nicht trocknen würden.
    »Die Welt da draußen hat sich verändert. Die Menschen haben gesehen, dass es uns gibt.«
    »Es war kein Traum, nicht wahr?«
    Er neigte das Haupt. »Nein, es ist alles genau so passiert.«
    Sie sah ihn lange an, den Wolf, der ihre Eltern auf dem Gewissen hatte. Dann drehte sie sich um und ging nach unten ohne zurückzuschauen. Noch immer trug sie den petrolfarbenen Schal wie die Erinnerung an ein Gefühl, das einmal wilde Entschlossenheit war. Sie dachte an die Spiegel, die überall im Land wie von selbst zerbrachen, an die Menschen, die sich wieder in Freiheit befanden.
    Die Welt war gerettet.
    Aber was war mit ihrer Welt?
    Vesper spürte die Trauer in sich. Wohin würde sie gehen? Was erwartete sie, wenn sie heimkehrte? Die kleine Wohnung in Hamburg war noch da, die Schule auch. Man würde ihre Eltern beerdigen. Das Leben würde weitergehen.
    Ja, sie würde auch Greta und Ida wiedersehen, am Theater arbeiten, ihr Leben unter völlig anderen Umständen, Bedingungen und Voraussetzungen wieder aufnehmen. Die Welt war noch da, aber alles würde sich ändern.
    Dieser seltsamen Gewissheit eingedenk, stieg sie die lange Treppe hinab nach unten.
    Der Burghof war noch da, die Dornenhecke ebenfalls.
    Oh, wie leer sie sich fühlte.

    Sie wusste, dass irgendwo in den Wäldern ein seltsames Mädchen lebte, vor dem man sich besser in Acht nehmen sollte; sie wusste, wer die Wölfe waren; sie war einer waschechten Hexe begegnet. Sie hatte die schöne Maikönigin gesehen, und Isegrim, der Menschenwolf, hatte sie in der Gewissheit gehen lassen, dass die Welt, die sie vorfinden würde, nie mehr die sein würde, die sie vor wenigen Tagen erst verlassen hatte.
     
     
     
    So trat sie schließlich langsam nach draußen in den Burghof. Der Wind war noch immer eisig kalt und das wilde, weite Winterland schneebedeckt. Sie entdeckte Jonathan Andersen, der drüben am Tor allein auf sie wartete. Er winkte ihr zu. Sie spürte den Schmerz, der in ihr wohnte, einen Schmerz, der ganz warm und vertraut war. Es war, als würde sie auf einmal verstehen, was wirklich zählt.
    »Leander Nachtsheim«, flüsterte sie seinen Namen, innig wie einen Wunsch, den man nur aussprechen muss, damit er zum Leben erwacht.
    Und tief in ihrem Herzen hörte sie seine Stimme, die ihr antwortete.
    Sie wusste, dass Märchen niemals so endeten, sondern immer ganz anders. Deshalb schloss sie die Augen, fest, ganz fest, und ließ die Schneeflocken sanft ihr Gesicht berühren.
    Im letzten Licht der Nacht sah sie ihn dann vor sich - Leander, sein schiefes Grinsen, diese schrägen Klamotten, die explodierte Frisur -, und als er die Hand nach ihr
ausstreckte, da ließ sie sich von ihm hinaus in die Welt führen, in ein Leben, das wieder voller Magie und Mythen war. Es war eigentlich ganz einfach, denn so sind die Dinge im Leben.
    Und als Vesper Gold, die jetzt nicht mehr allein war, viel später erneut durch den Spiegel unter dem toten Baum schritt und den Winterwald verließ, da lächelte sie selbst im verborgensten Winkel ihres jungen Herzens, diesmal sogar so laut, dass selbst die höchsten Wipfel der Tannen es hörten.

Nachwort
    E s war einmal …
    Im Grunde genommen sind es diese drei magischen Worte, die wirklich jede Geschichte, die jemals erzählt wurde, an welchem Ort auch immer (im Schatten knorriger Bäume, an Lagerfeuern in fernen Wüsten, in warmen Räumen vor knisternden
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