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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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Körper bäumte sich in ihren Armen auf, erbebte.
    Alexander trat an die Eiswand zurück.
    Seine Hand hielt das Messer, er deutete damit auf seinen großen Bruder. »Du bist schuld. Dafür hasse ich dich!« Sein Gesicht war zu einer Fratze verzerrt, wild und wütend.
    Jonathan Andersen unterdessen, dem die Empörung anzusehen war, wurde von den Wölfen in Schach gehalten. Sie hatten ihn gepackt und drückten ihn zu Boden. Hilflos kniete er zu ihren Füßen und konnte einfach nichts tun.
    Alles passierte so schnell.
    Es war so falsch.
    Die Schneekönigin wachte eisig über das, was als Nächstes geschehen würde.
    Doch das war Vesper egal.
    Sie sah nur Leander.

    Sie dachte an die Begegnung im Museum, als er ihr den Apfel gereicht hatte. An die Nacht auf der Cap San Diego . Den Spiegel. Jetzt lag er hier, und sein warmes Blut benetzte ihre Finger.
    »Bitte«, flehte sie, aber sie wusste, dass es vorbei war.
    Leander sah sie nur an. »Nein, noch nicht.« Er berührte ihre Lippen, sanft und zitternd. Mit letzter Kraft flüsterte er: »Ich will nicht gehen.«
    Sie wollte etwas erwidern, aber noch bevor sie es tat, war ihm der Glanz aus den Augen gewichen.
    Erst jetzt registrierte sie, dass Jonathan Andersen neben ihr kniete. Die Wölfe hatten ihn wohl gehen lassen.
    Keiner von ihnen rührte sich.
    Vesper beugte sich langsam über den Leichnam, der noch warm war. Fast schon dachte sie, seinen Atem zu spüren, doch war dies nichts anderes als der Wunsch eines Mädchens, das soeben erfahren hatte, wie es war, wenn einem das Herz zu Eis erstarrte.
    »Warum?«, schrie sie in den Raum, und der Schrei galt allen hier und der ganzen Welt.
    Dann brach sie zusammen.
    Schluchzend lag sie auf dem Boden. Sie hatte das Gefühl, nie wieder damit aufhören zu können. All die Dinge, die sie ihm gar nicht gesagt hatte, gingen ihr durch den Kopf. So viele verpasste Gelegenheiten. Bilder, Schnappschüsse, kurze Momente, sie flammten vor ihr auf, ein Gewitter aus Trauer und Reue. Es würde nie wieder gut werden, das wusste sie genau. Er war fort, und nichts, aber auch gar nichts, würde ihn zurückbringen.

    »Der Menschenwolf«, hörte sie aus weiter Ferne die kalten Worte der Schneekönigin, »zog mit einem Wolfsrudel in die Menschenwelt.«
    Nein, eigentlich wollte sie den Rest der Geschichte gar nicht hören. Sie wollte auch Alexander nicht mehr sehen müssen. Und doch wusste sie, dass er noch da war.
    Ja, verdammt, er war noch da. Er stand neben dem Fenster und hielt noch das Messer in der Hand. Blut tropfte von der langen Klinge, sickerte in den Teppich, wo es nicht auffiel, weil der von demselben Rot war.
    »Er entführte einen Jungen und brachte ihn ins Winterland.« Die Stimme der Schneekönigin klang wie ein Fluch.
    »Und wie die Herzen aller, die über die Jahre hinweg hier lebten, wurde auch das Herz des Jungen zu Eis.«
    Vesper weinte nur, all ihr Leben ging im Schluchzen unter.
    Er erkannte, dass die Menschen, bei denen er gelebt hatte, nicht nach ihm suchten. Sie hatten ihn alleingelassen, selbst sein großer Bruder, dem er vertraut hatte, war nicht gekommen, um ihm zu helfen. Sie hatten ihn im Stich gelassen, er war gefangen in den dunklen Wäldern dieser fremdartigen Welt. Ein kleiner Junge, der niemanden hier kannte, der sich vor den Wölfen fürchtete, der von heute auf morgen aus seiner vertrauten Welt entführt und dem Leben, das ihm so gefallen hatte, entrissen worden war.
    Ihr Blick durchbohrte Vesper wie mit Eisnadeln. »So geschah es, dass er einer von uns wurde.« Die Worte waren fest wie in Stein gehauen.
    Der Junge wurde hinter den Bergen aufgezogen, von einer jungen Frau, deren Haut so weiß war wie Schnee und deren Haar
glänzte wie Ebenholz. Sie war eine Schönheit, doch einsam, denn selbst die Mythen fürchteten sich vor ihr. Sneewitt, so hieß sie. Schneeweiß. Sie mied das Sonnenlicht, und in der Nacht, so sagte man, trank sie das Blut derer, die ihre Fenster nicht rechtzeitig vor ihr verschlossen hatten. Keiner tat dem Menschenjungen etwas zuleide, denn sie fürchteten die Rache der schönen Sneewitt. Der Menschenjunge wuchs heran und lernte die Gebräuche der Mythen kennen. Er erfuhr, was die Menschen ihm angetan hatten. Und er lernte, den Winter zu lieben und mit den Wölfen zu reden.
    »Er wurde der neue Spielmann.«
    Vesper sah ihn an, dieses Monstrum, das lebte, während sie einen Leichnam umarmte.
    Dem der andere so ähnlich sah.
    Grausam.
    Mit kaltem Herzen.
    Der wundersame Spielmann.
    »Als die Zeit
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