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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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und spürte die Wärme, die ihm die Liebe und alle Sommer der vergangenen Jahre geschenkt hatten, weichen. Er litt unermessliche Qualen, als sein Herz erstarrte, jeden Tag ein wenig mehr, doch unaufhaltsam wie die Hoffnung, die stetig stirbt.

    »Dann töteten sie ihn.«
    Erschrocken lauschte Vesper ihren Worten.
    »Erstarrt vom Eis, konnte er sich nicht wehren.«
    Sie schnitten ihm das Herz aus dem Leib. Jenes Herz, das einst nur für die Königin geschlagen hatte, war jetzt nur noch ein Klumpen Eis. Mit spitzen Hacken und Beilen zerschlugen sie das Herz des Erlkönigs, denn sie wussten, welche Macht jenes Herz in sich barg. Es zersprang in Hunderte von kleinen Stücken, und mit diesen Splittern, die grün leuchteten wie die leise Erinnerung an den Geruch der Wälder und Wiesen, kehrten sie in ihr Land zurück. Ihr Schiff wurde vom Eis zerschmettert, doch die Reisenden schafften es zu überleben.
    Sie seufzte.
    Vesper ahnte, worauf es hinauslief.
    »Aus den Splittern des Herzens, die zu Stein geworden waren, fertigten sie Waffen an.«
    Sie fassten die Steine in Uhren und Schmuckstücke, um ihre Macht zu tarnen. Dem Träger indes verliehen sie magische Kräfte. Die Kraft eines Erlkönigs, dessen Gedanken und Worte lebendig zu werden vermögen, um die Natur zu lenken.
    Vesper berührte den Ring an ihrem Finger.
    Sie zitterte.
    »Eine geheime Gesellschaft verteilte diese magischen Waffen an alle ihre Mitglieder.«
    »Die Bohemia .«
    Das einzige Ziel der Gesellschaft war es, die Mythen, wo immer man ihrer habhaft werden konnte, zu töten und zu vertreiben. Mithilfe der Steine drangen sie auch hier in diese Welt vor und vollzogen ihr blutiges Werk. Nur wenige der Mythen konnten sich
verbergen und flüchten. Viele von ihnen versteckten sich in der Welt der Menschen, die fortan nicht länger ihre Welt war.
    Die Schneekönigin zischte, und ihre Zähne waren spitz wie Eisnadeln.
    »Die Maikönigin aber«, fuhr sie fort, »belegten sie mit einem Fluch.«
    Sie verfluchten sie mit der Kraft eben jenes Herzens, das einst für sie geschlagen hatte.
    »Kein Fluch auf der Welt kann mächtiger sein als dieser.«
    Sie sperrten sie in den höchsten Turm der Burg. Dort hungerte sie, und bald schon verließen sie ihre Kräfte. Sie wusste jetzt, dass der Erlkönig im Eismeer gestorben war.
    »Wozu hätte sie noch leben sollen?«
    Vesper wusste, warum.
    Um Rache zu üben.
    »Es waren Jacob und Wilhelm Grimm, die den Turm versiegelten.«
    Die drei Schlüssel, mit denen man ihn wieder hätte öffnen können, wurden ebenfalls mit einem Fluch belegt. Nur drei Menschen, die bitteres Herzeleid erfahren hatten und deren Lebenswege sich bereits mit denen der Mythen gekreuzt hatten, sollten dazu in der Lage sein, den Turm zu öffnen. Und am Ende sollte die Schneekönigin selbst nur durch wahre Liebe wahrhaftig befreit werden können.
    »Und Sie glauben, dass wir diese drei Menschen sind?« Vesper hatte keine Ahnung, wie man dieser Kreatur wahre Liebe entgegenbringen könnte.
    Dann dachte sie an den Kummer, der sie alle drei all die Jahre gequält hatte. An Amalia, die Selbstmord begangen
hatte. An Leanders Bruder, der von den Wölfen verschleppt worden war. An Carlotta Siebenbürger, die Jonathan Andersen allein in der Welt zurückgelassen hatte.
    »Als das Herz der Maikönigin zu Eis erstarrte, da taten es ihm die Herzen der Mythen gleich.«
    Wo vorher Schönheit geatmet hatte, wurde jetzt bitterer Hass geboren. Hass auf die Menschen, die ihnen alles, was Leben gewesen war, genommen hatten. Eine Dornenhecke rankte sich um die Burg und verbarg sie vor den Augen der Welt. Niemand sollte jemals wieder die Maikönigin aus ihrem Gefängnis befreien. Die Kraft der Mythen wich in dem Maß, wie die Menschen den Glauben an die Magie und das Wunderbare verloren.
    »Auch die Wölfe«, sagte die Schneekönigin mit einem Blick zu den zottigen Kreaturen, »vereinen in sich Wunder und Magie.«
    Deren dunkle Seite, ja, Vesper wusste das.
    Die Geschichte aber war noch nicht zu Ende.
    »Doch es gab jemanden, der den ersten Schritt wagte. Jemanden, der nicht zu den Mythen und auch nicht zu den Menschen gehörte. Jemanden, der beides war, ohne zu wissen, warum.«
    Die Spiegelaugen der Schneekönigin bedachten nun Meister Grim mit einem vielsagenden Blick, und er verneigte sich vor ihr.
    »Aber hier sollte ich innehalten«, sagte sie mit einer Stimme wie Eiszapfen. »Da ist etwas, was ich dir versprochen habe, Leander Nachtsheim.«
    Hinter ihr, in den Tiefen der
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