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Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)

Titel: Ein fremder Feind: Thriller (German Edition)
Autoren: Jörg Isringhaus
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J ANUAR 1940
P OTSDAM
    Ein Windstoß weht feinen Schneestaub von den Bäumen, die Flocken glitzern im Mondlicht wie Lametta. Hansen ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um die Kulisse wahrzunehmen. Er hat keinen Sinn für die Poesie der Natur, berauscht sich nur an seinem Triumph. Kostet den Moment aus, in dem er wieder ein Leben nehmen wird. Erst dann fühlt er sich selbst lebendig. Das Töten ist eine Kunst, die er über die Jahre perfektioniert hat. In ihm schlägt das Herz eines Jägers. Leider hat er zu lange gebraucht, um sich darüber klarzuwerden. Vergeudete Zeit. Wer weiß, ob er es jemals herausgefunden hätte, wenn der Dschungel nicht gewesen wäre. Dort ist er seinem wahren Ich begegnet. Hat sich befreit vom Korsett der Konventionen. Dort wurde er wiedergeboren. Als Sieger.
    Heute trägt er auch die Uniform eines Siegers, den Waffenrock der SS. Hansen strafft die Schultern. Er fühlt sich wohl in seiner neuen Haut. Die Uniform legitimiert seine Taten. In ihr darf er seine Triebe ausleben. Töten. Herrschen. Er ist endlich da, wo er hingehört. Angekommen. Im Reich der Willkür. Des Wahnsinns. Des Kampfes. Warum es ausgerechnet der Dschungel war, der ihn so verwandelt hat, weiß er nicht. Es hätten auch die Berge sein können, vermutet er, oder eine einsame Insel, irgendeine Umgebung, die ihn mit sich selbst konfrontiert. Mit seinen Abgründen, seinen geheimsten Wünschen, seinen unerfüllten Träumen. Vielleicht verzeiht der Dschungel am wenigsten einen Fehler. Wenn erdort versagt hätte, stünde er jetzt nicht hier. Hansen kontrolliert seinen Atem, der in der Kälte zu Wölkchen kondensiert. Sein Herz schlägt eine Winzigkeit schneller als normal, aber das interpretiert er als Vorfreude. Auf das Geschenk, das dort im Schnee vor ihm kniet. Richard Krauss. Der große Krieger. Der Mann, vor dem sich alle fürchten. Nun nicht mehr als ein Häufchen Elend. Wartend auf die erlösende Hand seines Richters.
    Er wendet sich Krauss zu. Vor diesem Mann hat Göring ihn gewarnt. Gedrillt in Deutschland, ein Elitesoldat, erbarmungslos und effektiv. Übergelaufen zu den Engländern, dann zurückgekommen nach Deutschland, um sich hier zu rächen an denjenigen, die ihn einst zu dem machten, was er ist. Hansen schaut fast mitleidig auf die verlorene Gestalt, von der keinerlei Gefahr mehr ausgeht. Noch vor ein paar Tagen waren die Rollen vertauscht, jagte Krauss Hansen durch Berlin. Wie leicht sich die Gunst des Schicksals manchmal wendet. Oft ist es eine Frage von Details, wer am Ende die Oberhand behält. Richard Krauss und Heinrich Hansen. Zwei Täter. Zwei Opfer. Ihre Begegnung besitzt etwas Zwangsläufiges. Sie sind füreinander bestimmt, denkt Hansen, und ohne die Zeit im Dschungel wäre er diesem Mann wohl hilflos ausgeliefert gewesen. So gesehen, hat alles einen tieferen Sinn. Es ist nur meistens unmöglich, ihn sofort zu erkennen.
    Hansen richtet die Pistole auf Krauss. Der schaut ihn nicht einmal an, hält den Kopf gesenkt. Trotz der Kälte zittert Hansens Hand nicht. Er zielt, will Krauss ins Herz schießen. Nicht in den Kopf, das ist ihm zu gewöhnlich. Hansen will einen Blattschuss landen, Krauss buchstäblich das Herz zerreißen. Eine symbolische Geste zum Abschied.
    »Bring es zu Ende«, sagt Krauss.
    Aber Hansen ist trunken vor Euphorie, reizt es aus bis zum Anschlag.
    »Weißt du, wie sie mich im Busch genannt haben?«, sagt er. »Ich war der Jäger. Der Meisterschütze. Weil ich nie danebengeschossen habe.«
    Hansen spannt den Hahn. Es ist so weit.

ERSTER TEIL

1.
B RASILIEN
    28. Oktober 1935
Über Guarupa
    Die Welt war ein Dschungel. Bis zum Horizont erstreckte sich das Blätterdach, ein Meer aus Pflanzen, unwirklich in seiner bizarren Größe. Wenn Hansen die Augen zusammenkniff, sah er tatsächlich einen grünen Ozean, mit Wellen aus wogenden Wipfeln. Auch der Heinkel-Seekadett schaukelte knatternd im Wind, allerdings tausend Meter hoch über den Bäumen. Hansen saß hinten im zweisitzigen Doppeldecker, die Kamera im Anschlag. Seit drei Wochen flogen sie jetzt kreuz und quer über diesen endlosen Busch, fotografierten jede Lichtung, jedes Gewässer, jeden gottverdammten Strauch. Mein Gott, sehnte er sich zurück in die norddeutsche Heide, in offenes, ehrliches Land. Dieser Urwald erklärte jedem Fremden, der ihn betreten wollte, den Krieg. Noch nie hatte Hansen eine derart unzugängliche Natur erlebt. Dutzende Expeditionen waren hier, in den unwegsamen Wäldern Amazoniens, schon mit Mann und
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