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Grimm - Roman

Titel: Grimm - Roman
Autoren: Christoph Marzi
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gegangen. Die Steine und das, was sie wirklich waren.
    »Wenn ich frei bin, dann werde ich ins Eismeer gehen«, sagte die Schneekönigin. »Dort werde ich das Herz meines Erlkönigs wieder zusammenfügen und ihn ins Leben zurückrufen. Wir werden zusammen sein, und die Magie wird in die Welt zurückkehren.«
    »Wir werden dich nicht freilassen, du Monster«, sagte Andersen wütend.

    Die Schneekönigin trat ganz nah ans Eis heran. »Berührt meine Hand, und ich werde frei sein.« Sie lächelte verführerisch. »Alle werden dann frei sein. All die Kinder. Denkt an die Kinder.«
    »Tun Sie es nicht!«, schrie Vesper. Sie ahnte, was die Schneekönigin vorhatte. »Sie werden zu Eis erstarren und sterben. Nichts, was die Schneekönigin berührt, kann diesem Schicksal entgehen.«
    Das Wesen hinter dem Eis sah sie nur an. Vesper erkannte sich selbst in den Spiegelaugen. »Du bist schlau, Mädchen. Alles, was ich berühre, wird in der Tat kalt werden und erstarren.«
    Vesper und Andersen sahen einander an.
    »Was wird aus den Kindern, wenn Sie das Eis verlassen?«, wollte Vesper wissen.
    »Der Bann wird gebrochen. Wir haben unser Ziel erreicht. Die Menschen sehen uns wieder. Die Mythen werden zurückkehren.«
    »Und wenn Sie keiner befreit?«
    »Dann werden die Kinder auf ewig schlafen. Es wird meine Rache an der Welt sein.«
    Vesper nickte.
    Sie beugte sich hinab zu Leander und küsste ihn sanft auf die Stirn. Niemals zuvor hatte sie so empfunden. Es war, als sei sie ins Zwischenreich des Spiegels zurückgekehrt, als ertränke sie im Moor, gemeinsam mit ihm.
    Alexander Nachtsheim stand nur regungslos da. Seinem Gesicht war nicht anzusehen, ob er Reue empfand. Vesper wusste nicht, was für ein Mensch er war. Sie wusste
nicht einmal, ob er überhaupt noch ein Mensch war. Er war grausam, berechnend.
    So anders als sein Bruder.
    Vesper sah, wie ihre Tränen auf Leanders Gesicht fielen. Sie rannen ihm über die Wange, den Hals hinab.
    Jonathan Andersen beobachtete ganz genau, was sie tat.
    »Ich will es so«, sagte sie zu ihm.
    Er nickte traurig.
    »Ich habe nichts mehr zu verlieren.« Sie streichelte Leanders Haar, zupfte die Tolle zurecht. »Was ich hatte, habe ich schon verloren.« So erhob sie sich. Sanft bettete sie Leander auf den Boden.
    Weinend trat sie vor.
    Sie streckte ihre blutverschmierte Hand aus. Näherte sich dem Eis. Sie legte die Hand auf die eisbedeckte Wand, und die Kälte ließ sie nicht mehr los.
    Die Schneekönigin sah ihr in die Augen und griff von der anderen Seite nach ihrer Hand. Die eisig kalten Finger umschlossen Vespers Hand. Es tat weh, so weh wie alles, was keine Wärme kennt.
    Ein lautes Krachen kroch über die Wand. Dann splitterte alles, was Eis war.
    Es war wie Licht, nur heller.
    Selbst die Augen der Schneekönigin zerbarsten, und in den Splittern, die wie in Zeitlupe zu Boden schwebten, erkannte Vesper die Bruchstücke der wirklichen Welt, wo ebenfalls alle Spiegel in eben diesem Moment zerbrachen.

    Denn am Ende hatte wahre Liebe die Schneekönigin wahrhaftig befreien können.
    Die eiskalte Gestalt zerstob zu Schneeflocken, und inmitten der schwebenden Spiegelscherben erstand sie strahlend schön und so rosenmild, wie sie es gewesen war, als sie im Fluss gebadet und ihren Liebsten erblickt hatte. Was einst verloren ging, kehrte in diesem Augenblick zurück.
    Die Kälte wich.
    Und sie wurde wieder zur Maikönigin. Ihr Haar wurde Frühling und Sommer zugleich, und die Augen waren wie das Wasser in den Bächen, wenn sie an einem schönen Tag ihre Lieder plätscherten.
    »Wahre Liebe«, hörte Vesper sie wispern, »geht über den Tod hinaus.« Selbst die Stimme, mit der sie sprach, war nun anders. Sie war wie Blumen im Mai, eine Wiese, durch die der Wind weht, ganz sacht.
    Drüben am Fenster sank Alexander Nachtsheim, der jetzt sah, was er getan hatte, auf die Knie und begann zu weinen. Denn alle Herzen, die Eis und Schnee gewesen waren, schmolzen dahin. Die Maikönigin war in die Welt zurückgekehrt, und alles, was nicht mehr richtig war, veränderte sich.
    Und als nun auch Vesper, das Goldkind, sich umsah, so stand es vor einem schlagenden Herzen aus Glas, darin saß es selbst mit fest geschlossenen Augen. Und all die Tränen, die nicht länger mehr Eis und Schnee waren, ließen es erwachen, als sei es niemals in einen tiefen Schlaf gefallen.

    Vesper Gold öffnete langsam die Augen, blinzelte und schaute in die großen Augen des Wolfs. Dunkel waren sie und gütig, denn geschmolzen war alles,
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