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Nicodemus

Nicodemus

Titel: Nicodemus
Autoren: Blake Charlton
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Prolog
    Die Grammatikerin stand kurz davor, an ihren eigenen Worten zu ersticken.
    Lang und scharf waren diese Worte, geschrieben in einer magischen Sprache und zu einer stacheligen, kleinen Kugel gepresst. Ihre Beine gaben nach, und sie sank auf die Knie.
    Kalter Herbstwind pfiff über die hoch aufragende Brücke.
    Das Wesen, das neben ihr stand, verbarg sein Gesicht unter einer weiten, weißen Kapuze. »Schon zensiert?«, krächzte es. »Wie enttäuschend.«
    Die Grammatikerin rang nach Atem. Ihr Kopf fühlte sich ganz leicht an, und grellbunte Farben tanzten vor ihren Augen. Alles schien ihr mit einem Mal fremd.
    Sie kniete auf einer Steinbrücke, siebenhundert Fuß über den Mauern von Starhaven. Hinter ihr ragten die Türme der Akademie wie Baumriesen in den kalten Abendhimmel. Brücken, schmal wie Bordüren, spannten sich in luftigen Höhen von Turm zu Turm. Vor ihr erhoben sich die dunklen Bergzinnen des Pinnacle Gebirges.
    Allmählich drang es in ihr Bewusstsein, dass sie in ihrer Kopflosigkeit ausgerechnet zur Spindle Brücke geflüchtet war.
    Ihr Herz begann zu hämmern. Die Spindle Brücke führte in einem hohen Bogen von Starhaven fort und endete eine halbe Meile entfernt an einer steilen Felswand. Von hier gelangte man weder zu einem Weg noch zu einer Höhle, sondern nur zu nacktem Fels. Es war eine Brücke nach Nirgendwo, die keinerlei Chance zur Flucht oder Rettung bot.
    Die Grammatikerin versuchte zu schreien, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Im Westen färbte die untergehende Sonne den Himmel über der Küstenebene blutrot.
    Die weißgekleidete Gestalt spie verächtlich: »Erbärmlich, was heutzutage als fantasievolle Prosa durchgeht.« Dann hob sie ihren bleichen Arm. Im Handgelenk glommen zwei goldene Sätze.
    »Ihr seid Magistra Nora Finn, Dekanin des Speicherturms. Leugnet es nicht noch einmal und schlagt auch mein Angebot nicht noch einmal aus.« Das Wesen schleuderte ihr die gleißenden Wortstränge entgegen, und sie bohrten sich in ihre Brust.
    Nora konnte nichts erwidern, erstickte fast.
    »Was ist?«, höhnte ihr Peiniger. »Sieht ja so aus, als hätte mein Angriff den Fluch auf Eurer Zunge gebannt.« Er hielt kurz inne und lachte dann schnarrend. »Ich könnte Euch jetzt zwingen, Eure eigenen Worte zu schlucken.«
    Ein jäher Schmerz fuhr ihr durch die Kehle. Sie schnappte nach Luft.
    Das Wesen legte den Kopf schief. »Aber vielleicht habt Ihr es Euch ja bereits anders überlegt?«
    Mit knackenden Geräuschen lösten sich die Sätze in ihrer Kehle auf, strömten ihr in den Mund. Die Grammatikerin stützte sich auf die Hände und erbrach die silbrigen Worte, die auf dem Kopfsteinpflaster zerschellten. Die kalte Luft strömte in ihre gierende Lunge.
    »Gebt auf«, sagte das Wesen warnend. »Mit diesem Text hier kann ich jeden Eurer Zauber zensieren.«
    Als sie aufschaute, hatte das Wesen den goldenen Satz in ihrer Brust ergriffen. »Welcher Eurer Schüler ist der Gesuchte?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Das Wesen lachte. »Das Geld unseres Meisters habt Ihr doch auch genommen und für ihn spioniert.«
    Erneut schüttelte sie den Kopf.
    »Wollt Ihr mehr als Gold?« Die Gestalt trat einen Schritt auf sie zu. »Ich habe den Smaragd in meinen Besitz gebracht und somit auch Primus. Ich könnte Euch die ersten Worte des Schöpfers verraten. Ihr fändet sie … unterhaltsam.«
    »Für nichts auf der Welt lasse ich mich von Euch kaufen«, stieß Nora zwischen zwei Atemzügen hervor. »Mit dem Meister war es etwas anderes; der war immerhin ein Mensch.«
    Meckerndes Gelächter. »Glaubt Ihr das wirklich? Dass er ein Mensch war?«
    Mit einer blitzschnellen Armbewegung straffte das Wesen den Satz. Nora wurde gewaltsam nach vorne gezerrt und fiel aufs Gesicht. Wieder flammte der Schmerz in ihrer Kehle auf. »Von wegen, dummes Drecksstück«, fauchte das Wesen. »Euer ehemaliger Meister war kein Mensch!«
    Sie wurde an den Haaren nach oben gerissen und war nun gezwungen, ihren Peiniger anzusehen. Ein Windstoß bauschte seine Kapuze. »Welcher ist der gesuchte Kakograph?«, fragte er.
    Sie ballte die Fäuste. »Was wollt Ihr von ihm?«
    Schweigen. Nur das Pfeifen des Windes war in der Stille zu hören. Dann fragte das Wesen: »Ihm?«
    Unwillkürlich hielt Nora die Luft an. »Nein«, sagte sie und gab sich größte Mühe, ruhig zu klingen. »Nein, ich sagte: ›von ihnen‹.«
    Die verhüllte Gestalt schwieg.
    »Ich sagte«, beharrte Nora, »›Was wollt Ihr von ihnen?‹ Nicht von ihm. Von
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