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Liebe 2.0

Liebe 2.0

Titel: Liebe 2.0
Autoren: Mareike Giesen
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Prolog
    „Du siehst aus
wie eine Fee!“
    „Danke, Süße!“
    „Warum weinst
du?“
    „Weil mir Feenstaub
in die Augen gekommen ist.“
    Meine kleine
Schwester guckt mich skeptisch an, während ich verzweifelt versuche, mir den
Blick auf mein Spiegelbild durch den Tränenschleier frei zu blinzeln. Doch für
jede einzelne Träne, die ich aus meinem Augenwinkel verscheuche, kommen fünf
neue nach, und irgendwann gebe ich mich geschlagen. Es sind einfach zu viele.
    „Warum hast du
dich so hübsch gemacht?“, fragt Clara weiter.
    „Ich spiele Verkleiden.“
    „Uh, ich spiel’
mit!“, ruft Clara, springt hastig auf und rennt in ihr Zimmer, während ich
bewegungslos an mein verschwommenes Ebenbild gekettet bleibe. Langsam aber
sicher ist die filigrane Perlenstickerei meines weißen Empire-Kleides völlig
durchnässt – nun, sei’s drum. Es ist eh der einzige Auftritt, den dieses Kleid
je haben wird: Eine klammheimliche Performance vor dem elterlichen
Spiegelschrank. Ich denke, das hat es sich auch anders vorgestellt, als es noch
vor wenigen Wochen im Brautladen hing, umgeben von seinen Freundinnen aus Samt
und Seide, und von einer rauschenden Hochzeit geträumt hat…
    Clara kommt
zurück ins Zimmer gewetzt. Sie trägt ihr rosa Prinzessinnenkostüm und hopst
aufgeregt auf und ab, während sie mich knapp in den Plot einweist: „Ich bin die
Feenprinzessin, und du bist meine große Schwester. Und wir sind beide in ein
dunkles Verlies gesperrt worden, aber bald kommen der Prinz und sein kleiner
Bruder und retten uns.“
    Voller Vorfreude
auf die königliche Hochzeit strahlt Clara übers ganze Gesicht, während sie das
Doppelbett unserer Eltern spontan zum Trampolin umfunktioniert. Die Lattenroste
quietschen, der rosa Tüll flattert, und doch dringt das alles nur wie durch
eine Nebelwand zu mir durch.
    „Und wenn der
Prinz nicht kommt?“, frage ich schließlich.
    Clara verliert
das Gleichgewicht und landet mit einem Bauz auf ihrem Po. Verstört blickt sie
mich an. „Wie meinst du das? Er muss kommen! Sonst können wir doch gar nicht
gerettet werden!“
    Allein die
Vorstellung versetzt Clara in Panik, und sofort bereue ich meinen Zynismus, mit
dem ich so rücksichtslos über die heile Märchenwelt einer Neunjährigen
hinweggetrampelt bin. Ich strecke beide Arme aus, ziehe die erschütterte
Feenprinzessin soweit zu mir heran, dass ich ihr nicht mehr in die Augen gucken
muss, und behelfe mir mit einer Notlüge.
    „Aber was rede ich
da! Natürlich wird er kommen!“
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     

Eins
    „… 6 Uhr 15 Beitrag Baustelle
Friedensbrücke, 6 Uhr 25 Werbeblock, 6 Uhr 30 Nachrichten, 6 Uhr 40 Beitrag
Kinokarten, 6 Uhr 50 Werbeblock, 7 Uhr Nachrichten, 7 Uhr 15 Comedy, 7 Uhr 25…“
    Während Manuel
das Protokoll der Frühschicht herunterrattert (Ordnung muss sein, auch beim
Radio), versuche ich langsam aber sicher, mich für den heutigen Tag zu
motivieren. Der zu diesem Zweck vor mir dampfende Kaffee kann dabei kaum
helfen, denn irgendwer hat wieder einmal vergessen, eine neue Kanne
aufzusetzen, so dass ich mir auf die Schnelle eine Instant-Brühe anrühren
musste. Pfui Teufel!
    Um mich von dem
Leid in der Tasse vor mir abzulenken, blicke ich in die Redaktionsrunde, doch
auch hier sind die Aussichten trübe. Zwar merkt man Manuel seine Frühschicht
kaum an, aber dafür sieht Nathalie, die Co-Moderatorin, umso blasser aus. Mit
ihren tiefen Augenringen und den abgeknabberten Fingernägeln könnte man meinen,
sie wäre zum Beitrag „Herbstdepression“ ins Studio geladen worden. Dabei ist
sie in Wirklichkeit die Powerfrau von McWeck und hat noch vor zwei
Stunden locker flockig sämtliche Hörer unseres 50-Kilometer-Senderadius’ aus
dem Bett gelockt und zur Arbeit begleitet.
    Ich betrachte
nachdenklich Nathalies Schlabberlook sowie ihren leicht fettigen Haaransatz und
lege den Kopf schief. Vielleicht liegt es ja an der Aureole aus
Herbstsonnenlicht, die sich zwischen den Lamellen ins kahle Sitzungszimmer
geschlichen hat und Nathalie wie eine Heilige umkränzt? Aber mit einem Mal sehe
ich meine zickige Kollegin wortwörtlich in einem anderen Licht. Sie erscheint
mir geradezu als Märtyrerin, aufopfernd und voller Hingabe. Achtet nicht auf
mich! Was zählt, ist allein das Wohl der Hörer! Doch dann nehme ich auch schon
wieder Abstand von dieser Einschätzung. Ich kenne Nathalie einfach zu lange.
    Neben Nathalie
sitzt Timon von
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