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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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Zimmer war ihr fremd, ebenso das Haus. Sie hatte es nie gemocht, in einer fremden Umgebung leben, oder noch schlimmer, schlafen zu müssen. Selbst die Tage, die sie im Haus ihrer Großeltern in Devon verbracht hatte, zählten nicht zu ihren angenehmsten Erfahrungen. Das lag nicht an Großvater und Großmutter. Sie hatte beide abgöttisch geliebt und versucht, sich so gut sie es vermochte, um Sarah zu kümmern, nachdem sie vor zwei Jahren unheilbar krank geworden war.
Es war das Haus gewesen. Die fremde Umgebung. Demi war ein Kind der Stadt. Sie liebte den kleinen Vorort von Boston, in dem ihre Eltern ein kleines Einfamilienhaus erworben hatten. Sie liebte die Straße, deren Kurven und Bordsteine sie mit geschlossenen Augen entlangradeln konnte. Und sie liebte ihr Zimmer, das ihr stets ein Gefühl von Sicherheit vermittelt hatte und ihr zeigte, wo ihr Zuhause war.
Hier in diesem Kinderzimmer in New Eden war sie nicht zu Hause. Das Kind, das hier einmal lebte, existierte mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr. Dem Spielzeug nach zu urteilen, musste es ein Junge gewesen sein. Demi fand weder Puppen noch Bücher mit Herzen drauf; dafür Spielzeugautos, Plastiksoldaten, denen Arme oder Beine fehlten, und zahlreiche Teddybären, wie den, den sie gerade im Arm hielt.
Alles erschien ihr so fremd und steril. Es war ihr unangenehm, die Sachen zu berühren. Als würde sie etwas Heiliges anfassen. Einzig der Teddy spendete ihr etwas Trost. Sie fand ihn auf dem Bett, als sie am Nachmittag mit ihren Sachen vom Hotel ins Haus ihres Vaters gezogen war.
Das Haus ihres Vaters …
Das Haus gehörte Menschen, die tot waren. Einem Vater, einer Mutter und einem Jungen, die sich bestimmt auf ein gemeinsames Wochenende im Garten gefreut hatten. Vielleicht wäre der Vater mit seinem Jungen Fußballspielen gegangen. Demi hatte einen abgenutzten, schmutzigen Ball zwischen Schrank und Schreibtisch gefunden.
Es war nicht ihr Haus. Es war fremd, so wie alles hier in New Eden. Es war ihr so fremd, wie all die Dinge, die sie seit Beginn ihrer Reise gesehen hatte.
So fremd, wie ihr Vater.
Demi wusste, dass sie überglücklich sein sollte. Ihr Körper sollte diesen unbarmherzigen Drang verspüren, vor Freude nach vorn zu springen und immer weiterzulaufen. Sie sollte das Gefühl bedingungsloser Liebe, die sie im Haus ihrer Großeltern auf derart grausame Weise verloren hatte, in sich spüren und mit beiden Fäusten festhalten. Doch sie konnte es nicht.
Da war noch etwas anderes. Etwas Kaltes, Fremdes in ihr. Diese nörgelnde, quälende Stimme, die sie an das Kreischen eines hungrigen Vogels erinnerte. Diese Stimme fragte sie immer wieder dasselbe, wie eine alte Schallplatte, die hängengeblieben war. Diese Stimme führte sie immer wieder zurück in die Dunkelheit im Haus ihrer Großeltern.
Warum war er einfach gegangen?
Murphy hatte Demi in den Schuppen hinter dem Haus gezerrt. Dort kauerten sie hinter dem Generator, umgeben vom Geruch nach faulem Holz, feuchter Erde und altem Öl. Ihre Waffen waren im Haus verloren gegangen, auch schienen sie nutzlos. Demi hatte auf eine der Kreaturen gefeuert, ohne die geringste Wirkung zu erzielen. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt getroffen hatte, aber der Rückstoß hätte ihr fast die Schulter ausgekugelt.
Warum war er einfach gegangen?
Ihr Vater hatte sie im Stich gelassen. Das war es, was der kreischende, hungrige Vogel in ihr zu sagen versuchte. Er hatte sie in einer zerstörten, leeren, sterbenden Welt allein zurückgelassen.
Aber vielleicht konnte er nicht anders handeln. Die Stimme ihrer Vernunft klang ruhig und sachlich – als würde ein Staatsanwalt ein Plädoyer im Gericht verlesen.
Was hätte ihr Vater tun sollen? Er fand die Waffe seiner Tochter in einer Blutlache. Demis Großmutter war tot und ihr Großvater legte sich zum Sterben nieder.
Was hätte er tun sollen?
Was hätte sie getan?
Demi betrachtete den Teddybären. Im Schein der Kerze, die neben ihr auf dem Boden stand, erkannte sie einen dunklen Fleck an seiner Stirn, als hätte er eine Kopfwunde. Sie strich mit dem Daumen darüber, doch der Fleck war eingetrocknet. Entweder Farbe oder Marmelade … oder … Blut.
In Boston hatte sie einen ähnlichen Bären besessen, doch sie hatte ihn in der Hektik des Aufbruchs in ihrem Zimmer zurückgelassen. Sie fragte sich, ob sie dieses Haus jemals ihr Zuhause nennen konnte.
Da war die kreischende Stimme, die sie verhöhnte und immer stärkere Zweifel in ihr säte. Es gab Bilder in ihr, die sie nie
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