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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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Kapitel 1
Alleine

I
Stille.
Das war alles, was geblieben war.
Die Stille und der silbergraue Himmel, der sich über den Rest der Welt gelegt hatte, als bestünden die Wolken aus dunkler Asche.
Daryll saß auf dem steinernen Pfeiler des Tores zum Schulgelände und ließ seinen Blick über das starre Gemälde einer toten Stadt gleiten. Seine Finger spielten gedankenverloren mit dem bröckelnden Gestein des Mauerwerks.
Ein leichter Wind wehte an diesem Morgen durch die Straßen und führte die ersten kühlen Liebkosungen des nahenden Winters mit sich. Der Gestank von Fäulnis und Abfall wälzte sich wie gräulicher Dunst über die Dächer.
Darylls Blick heftete sich auf zwei Vögel, die sich im Rinnstein um einen vermoderten Papierfetzen stritten. Ihr schrilles Kreischen zerteilte die Luft wie die Schneide eines Messers. Ihr Tanz wirkte trotz des Lebens, den er beinhaltete, bizarr und fremd. Als würden sich Puppen vor einem schlecht gemalten Hintergrund bewegen.
Daryll fragte sich nicht zum ersten Mal, was wohl mit all den Tieren geschehen wird – jetzt, da ihr natürlicher Feind, der Mensch, nicht mehr existierte. Er erinnerte sich an eine Serie, die vor etwa einem Jahr im Fernsehen gelaufen war. Dort ging es um die Zukunft der Erde nach dem Menschen. Damals, behaglich in die Kissen der Couch gehüllt und eine eiskalte Cola sowie eine Tüte Chips auf dem Tisch neben sich, fand er die Szenen amüsant und spannend. Das Verschwinden von Städten unter Buschwerk und Sumpf, das Einstürzen maroder Gebäude, die in früheren Zeiten einmal den Status eines Landes symbolisierten und von denen nichts als Ruinen aus Stein und Stahl übrig blieben. Und natürlich die Tierwelt, die sich ungehindert entfalten konnte und sich in den Trümmern ehemaliger Hochhäuser und Fabrikanlagen einnistete.
Wie lange würde es wohl dauern, bis Devon den Vögeln gehörte? Oder schlimmerem Getier, das aus den Hügeln über der Stadt kommen und in den Überresten der einstigen Zivilisation brüten würde? So beeindruckend die Bilder damals im Fernsehen auf Daryll auch gewirkt haben mochten, er wollte all diese schrecklichen Szenarien nicht am eigenen Leib erfahren müssen.
Er nahm eines der kleinen aus dem Torpfeiler herausgegrabenen Steinchen und warf es nach den beiden streitenden Vögeln. Eines der Tiere stieß einen wütenden Schrei aus und plusterte sich auf, während das andere aufgeregt den Papierfetzen fallen ließ. Dann flogen beide mit wildem Gezeter in den tristen Himmel empor und verschwanden in Richtung Kirchturm. Zurück blieb der durchlöcherte Papierfetzen, der jetzt ebenso still und tot wie der Rest der Welt im Rinnstein lag.
Daryll betrachtete ihn eine Weile. Er wartete auf eine Bewegung. Einen Windhauch, der das Papier über den Asphalt der Straße trug. Irgendetwas, das ihn an Leben erinnerte.
Schließlich schloss er die Augen und fuhr sich mit der Hand durch sein struppiges Haar.
Nicht zum ersten Mal spürte er eine bleierne Müdigkeit hinter seinen Lidern. Er schlief wenig, seit die Welt aufgehört hatte, zu existieren. Die meiste Zeit lag er wach und starrte in die Dunkelheit des Klassenzimmers, seiner derzeitigen Zuflucht.
Mit den Nächten kam die Angst. Denn dann konnte er Sie hören. Ihr Heulen und Brüllen. Es gellte auf grauenerregende Weise durch die Straßen der Stadt und wurde von der Stille der Nacht augenblicklich wieder verschluckt. Oft konnte Daryll das Gezeter der Kreaturen ganz in der Nähe der Schule hören, das Bersten von Glas oder das Knirschen von Sand direkt vor dem Fenster. Er wusste nicht, ob die Geräusche vor dem Gebäude nur ein Resultat seiner angespannten Nerven waren oder ob sich die Wesen der Nacht tatsächlich mit jedem Mal etwas mehr näherten.
Seine Gedanken wanderten zu Mary Jane. Wie immer, wenn die Ängste in seinem Kopf die Bilder dieser widerlichen Kreaturen entstehen ließen.
Bis vor vier Tagen war er nicht alleine in dieser Welt gewesen. Auf der fleckigen Matratze, die in seinem ehemaligen Klassenzimmer in der hintersten Ecke auf dem Boden lag, und die durch einen Wall aus Tischen und Holzstühlen vor dem Rest der Welt verborgen war, hatte Mary Jane sich in den Nächten eng an ihn geschmiegt. Fürsorglich, wie ein großer Bruder, hatte Daryll stets den Arm um das Mädchen gelegt und ihr Haar gestreichelt. Er hatte es genossen, ihren Atem an seinem Hals zu spüren. Das Heben und Senken ihres Brustkorbes vermittelte ihm das Gefühl von Leben. Wenn Mary Jane bei ihm gewesen war, hatte er
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