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Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)

Titel: Graues Land - Die Schreie der Toten (German Edition)
Autoren: Michael Dissieux
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verklingen. Ihr Echo hallte unaufhörlich durch ihre Gedanken. Krallen, die über nackten Boden kratzten.
Der Mann …
Das Keuchen wilder Tiere. Der panische Atem der Mädchen.
Der Mann auf der anderen Straßenseite …
Sie schloss die Augen, versuchte die schrecklichen Szenen aus dem Waisenhaus in Cromwell zu vertreiben. Sie war selbst nie dort gewesen und doch sah sie jedes einzelne Möbelstück, hörte das Holz der Tür bersten, das Geifern der Bestien und Röcheln der Mädchen. Das Reißen von Fleisch …
Plötzlich wurde es still in ihrem Kopf. Kein Echo mehr, keine Schreie. Von einem Augenblick auf den anderen stand ihr Verstand still und ließ ein altes, verblasstes Bild aus ihrer Erinnerung wie ein verschwommenes Gemälde in ihr aufsteigen.
Der Mann, der zur Straße ging …
Demi hob den Kopf. Ihr Mund öffnete sich. Sie konnte nicht mehr atmen, begann zu zittern. Dann kamen die Tränen.
Der Mann stand jetzt vor dem weiß gestrichenen Holzzaun, blickte in ihre Richtung. Demi erhob sich, ihre Beine waren wie Gummi. Sie musste sich am Türrahmen des Hotels festhalten. Der Mann verschwamm vor ihren Augen. Ebenso die Straße. Mayfield verzerrte sich zu einem Traum. Ihre zitternden Lippen formten Worte. Erst lautlos, dann schrien sie durch die Stille der Stadt.
»Daddy!«
Sie schwebte durch den Nebel der Stadt, ihre Füße berührten kaum den Boden. Der Mann breitete die Arme aus. Er sagte etwas, doch in Demis Gedanken jagten sich Bilder und Erinnerungen in atemberaubendem Tempo. Sie spürte kräftige Arme um ihren Körper, roch den herben Duft des Mannes, der ihr all die Jahre ihrer Kindheit zurückbrachte.
Sie schluchzte und streckte sich, um das Gesicht des Mannes zu berühren. Ihre Finger zupften am Bart, wie sie es früher immer getan hatten. Sein Gesicht war hager, die Augen eingefallen und von Tränen feucht. Doch sie erkannte jede Unebenheit in seinem Gesicht, spürte die Vertrautheit seiner Haut und die Dichte seines Haares unter ihren Berührungen.
»Daddy«, flüsterte sie mit einer Stimme, die atemlosem Keuchen glich.
»Kleines«, drang die Stimme ihres Vaters zum ersten Mal bis in ihr Innerstes durch.
Die graue Welt um sie herum versank, als würde sie sich von einem Alptraum befreien. Die Farben ihrer Kindheit stiegen in ihr auf. Demi schloss die Augen und ließ sich in ihre Erinnerungen fallen.
XIII
Etwas später saßen sie in einem kleinen Wohnzimmer. Die Möbel waren wuchtig und zu groß für den Raum. Durch die kleinen Fenster fiel kaum genügend Licht.
Demi saß an einem schweren Eichentisch mit geschnitzten Füßen, die wie die Tatzen eines Löwen aussahen. Ihr Vater kam mit einem kleinen silbernen Tablett ins Zimmer und stellte mit einer galanten Bewegung eine dampfende Tasse Kakao vor ihr auf den Tisch. Dann setzte er sich ihr gegenüber, griff nach einer zweiten Tasse und drehte sie in seinen Händen.
»Ich kann es nicht glauben«, wiederholte er zum x-ten Mal, nachdem ihm Demi in allen Einzelheiten erzählt hatte, was sich in den letzten Tagen zugetragen hatte. Sie lächelte und versuchte jedes Härchen und jede Falte ihres Vaters mit den Augen aufzusaugen. Es war ein wunderbares, warmes Gefühl zu wissen, dass sie nicht völlig alleine auf der Welt war. Die Nähe ihres Vaters ließ eine Kraft in ihr erblühen, die sie damals auf dem Dach des Hospitals in Boston zurückgelassen hatte. Sie fühlte sich zum ersten Mal wieder lebendig, größer als die Welt um sie herum und dazu bereit, es mit jeder Dunkelheit, die ihr auflauerte, aufzunehmen. Aber trotz der unsäglichen Freude und Liebe, die sie für den Mann empfand, kroch da etwas in ihr an die Oberfläche, das sie nicht aufhalten konnte. Eine feine, kalte Stimme, die ihr etwas zu sagen versuchte.
»Wie geht es Daryll?«, fragte ihr Vater, trank einen Schluck und sah sie über den Rand der Tasse hinweg an.
»Es geht ihm gut. Und Murphy auch. Sie sind drüben im Hotel.«
Barry nickte und lachte. »Ich weiß. Ich habe gehört, wie Joshua über die Neuankömmlinge gesprochen hat. Ich konnte ja nicht ahnen, dass du unter ihnen bist.«
Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete mit ungläubigem Kopfschütteln seine Tochter, als fiele ihm jetzt erst auf, wie sehr sie sich verändert hatte.
»Es gibt doch noch Wunder in dieser Zeit.«
Demi trank ihre Tasse leer und genoss die Wärme in ihrem Magen. Doch so sehr sie sich im Moment auch innerhalb der Grenzen eines Traumes zu bewegen schien, sie konnte die fordernde
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